Mojib Latif zur Klimakrise: "Unsere Zeit läuft ab, und das wird nicht begriffen"

Autor: Sven Heitkamp | Kategorie: Freizeit und Technik | 01.11.2022

Mojib Latif im Interview
Foto: picture alliance/dpa/Sina Schuldt

"Für das 1,5-Grad-Ziel ist es zu spät": Das sagt Professor Mojib Latif, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, ganz deutlich. Gleichzeitig betont er im Interview, dass es gute Lösungen für die Klimakrise gibt. "Die Welt muss sich nur einig werden, sie einzusetzen."

Mojib Latif ist prominenter Ozeanologe, Meteorologe und Mahner für einen konsequenten Klimaschutz. Nun ist sein neues Buch mit einem alarmierenden Titel erschienen: Countdown. Wir haben mit ihm gesprochen. 

ÖKO-TEST: Herr Professor Latif, Sie mahnen in Ihren Büchern die Welt vor der Klimakatastrophe. Was unternehmen Sie selbst im Alltag, um Ihren CO2-Fußabdruck zu minimieren?

Mojib Latif: Ich mache das, was viele andere auch tun könnten: Mit dem Rad fahren in Hamburg, selbst zu offiziellen Terminen, und das Auto stehen lassen. Strom sparen, Licht ausschalten. Bei der Ernährung auf nachhaltige Produkte achten, Verschwendung vermeiden. All das heißt übrigens nicht Verzicht, sondern Gewinn an Lebensqualität.

Allerdings kann man solche Lösungen nicht verallgemeinern. Sie hängen immer von der persönlichen Lebenssituation ab. Bio-Lebensmittel sind zum Beispiel in Relation zu konventionellen viel zu teuer. Da haben wir einen Fehler im System.

Sie sind ein herausragender Wissenschaftler, der nicht im Elfenbeinturm verharrt, sondern sein Wissen in Büchern und Interviews teilt. Was treibt Sie dabei an?

Latif: Das ist meine Art, mit diesen Fragen umzugehen, sie zu verarbeiten. Wir haben ja schon sehr lange besorgniserregende Berechnungen angestellt, etwa zum Anstieg der Meeresspiegel und zur Bedrohung der Küsten. Da kann ich doch nicht ruhig bleiben!

Ich sehe auch darin meine Verantwortung als Wissenschaftler und versuche, die Dinge zu beschreiben, wie sie sind, und in wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Das ist nicht immer schön, aber nötig. Weil wir schon viel zu lange in dem Dilemma festhängen, dass wir nicht vom Wissen zum Handeln kommen.

Warum eigentlich nicht?

Latif: Einer der Gründe ist, dass Wirtschaftsinteressen immer dominieren. Sie blockieren vernünftige, nachhaltige Lösungen, weil sie auf kurze Sicht oft teurer sind. Dabei sind Wirtschaftsinteressen meistens die Interessen einzelner weniger, aber nicht die Interessen großer Teile der Bevölkerung.

Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Waldbränden.
Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Waldbränden. (Foto: mhp/Shutterstock)

Kapitalismus muss sozial und ökologisch werden

Ist das liberale, kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf Wachstum beruht, also ungeeignet, den Klimawandel überhaupt in den Griff zu kriegen?

Latif: Das würde ich nicht so sagen. Aber wir leben in einem System, das Umweltzerstörung belohnt. Preise für nicht nachhaltige Produkte sind deutlich niedriger als für nachhaltige. Produktionsverlagerungen in Weltregionen mit geringeren Umwelt- und Sozialstandards rechnen sich. In den vergangenen 30 Jahren hat man die noch bestehenden Regeln sogar noch abgebaut. Der Markt scheint dumm zu sein, jedenfalls nicht nachhaltig. Er merkt nicht, dass wir den Planeten gegen die Wand fahren. Deshalb muss der Kapitalismus sozial und ökologisch werden.

Sie und Ihre Kollegen haben den Klimawandel schon vor Jahrzehnten angesprochen und wurden trotzdem nicht gehört. Warum passiert so wenig?

Latif: Meine Auseinandersetzung damit begann in den 80er-Jahren. Damals habe ich beim Klimaforscher Klaus Hasselmann promoviert, der jetzt mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Aber ich musste früh lernen, dass die Menschen nicht gut darin sind, langfristig zu denken.

Wir bewältigen kurzfristig große Krisen, aber verlieren dabei immer den Weitblick für die großen Probleme. Politik schaut auf die nächsten Wahlen und will niemandem wehtun, Wirtschaft schaut auf die nächsten Quartalszahlen. Es gibt immer Wichtigeres, als den Klimawandel oder das Artensterben zu stoppen. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges ist plötzlich Frackinggas ein Heilmittel – aber das ist es nicht!  

Immerhin sind in den vergangenen Jahren viele Debatten in Bewegung gekommen, nicht zuletzt seit Greta Thunberg und Fridays for Future.

Latif: Aber wir haben auch wieder das menschliche Kurzfristhandeln gesehen: Mit Corona wurde das Thema einfach von der Straße gefegt. Die Themen Nachhaltigkeit und Klima haben heute zwar alle auf dem Schirm. Doch da ist leider viel Greenwashing dabei. Die Lobbyisten haben zu viel Einfluss auf die Politik.

(Foto: ÖKO-TEST )

Die Krisen häufen sich

Haben Sie überhaupt noch Hoffnung in die Lösungskompetenz und -bereitschaft der Politik?

Latif: Das ist ein wunder Punkt. Unsere Zeit läuft ab, und das wird nicht begriffen. Deswegen heißt mein neues Buch Countdown. Dass die Tragweite des Problems nicht begriffen wird, sieht man daran, dass viele Politiker noch am 1,5-Grad- Ziel festhalten. Aber dafür ist es zu spät. Sonst müssten wir binnen weniger Jahre den CO2-Ausstoß global auf null bringen.

Tatsächlich steigen die Emissionen global weiter an. Ich habe den Eindruck, die Bevölkerung soll ruhiggestellt werden, indem die Politik vorgibt, man habe das Problem im Griff. Aber das ist eine Illusion.  

Sind wir nicht schon mittendrin in der Erderwärmung und erleben bereits an vielen Wetterextremen den Temperaturanstieg? Was kommt da noch auf uns zu?

Latif: Eigentlich ist es schon weit nach zwölf! Wir sehen jedes Jahr deutlicher, was auf uns zukommt. Hitzetote, gesundheitliche Gefahren durch zu hohe Temperaturen, extreme Trockenheit, die die Landwirtschaft ausdorrt, riesige Waldbrände – selbst in Deutschland –, die Hochwasserzerstörungen im Ahrtal. Die Krisen häufen sich, und es gibt Grenzen, die man berücksichtigen muss …

Welche?

Latif: Zunächst die Grenzen der Vorhersagbarkeit von Wetter- und Klimaprognosen, auch wenn viele Aussagen von vor 30 Jahren ziemlich genau eingetroffen sind. Zweitens die Grenzen der Anpassungsfähigkeit: Wir können uns nicht beliebig an Extremwettersituationen anpassen wie die zunehmende Trockenheit.

Und die Grenzen der Finanzierbarkeit: Die Steuerzahler können nicht jedes Jahr eine Ahrtal-Katastrophe mit einem Aufbaufonds von 30 Milliarden Euro finanzieren. Es wird Verlierer geben, je mehr Krisen es gibt. Darin steckt eine Menge sozialer Sprengstoff!

Probleme sehen und annehmen 

Klingt nach Weltuntergang, nach Apokalypse und der Warnung, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen …

Latif: Das tue ich nicht. Unsere Kinder sollen weiter Kinder bekommen. Ich plädiere aber dafür, die Probleme zu sehen und anzunehmen, wie sie sind, und folgerichtig für die Zukunft zu handeln. Zum Beispiel: Wir geben enorme Summen für fossile Brennstoffe aus, während wir Energie aus Sonne, Wind und Erdwärme fast umsonst bekommen können. Da geht es nicht um Hexenwerk. Die Lösungen sind doch alle da. Sie müssen nur zum Einsatz kommen.  

Welche Lösungen sehen Sie neben der Energiewende in erster Linie?

Latif: Die Weltwirtschaft muss sich neu aufstellen. Es kann nicht nur um Gewinnmaximierung gehen. Mit einem Umsteuern auf nachhaltige Fertigung und erneuerbare Energien kann man sogar einen Wirtschaftsboom auslösen. Dazu kann man Steuern und Importzölle auf nicht nachhaltig hergestellte Produkte aus dem Ausland einführen. Das würde unter anderem China treffen, dem heute größten CO2-Verursacher.

Auch die Justiz muss sich umstellen. So wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass wir die Interessen nachfolgender Generationen berücksichtigen müssen und ihnen nicht alle Lasten aufbürden dürfen. CO2-Ausstoß und Umweltverschmutzung müssen künftig sanktioniert werden. Wir müssen unseren Ressourcenverbrauch reduzieren, die Verschwendung stoppen und die Kreislaufwirtschaft ankurbeln.  

Sie sprechen zudem von einer "kulturellen Revolution" für die Lösung der Klimakrise. Was meinen Sie damit?

Latif: Das betrifft alle Ebenen: die Bürger, die Wirtschaft, die Politik und die Regierungen. Das Klimaproblem kann nur gemeinsam von allen Ländern gelöst werden. Das Kuriose ist doch: Selbst wenn Deutschland jetzt klimaneutral werden würde, hätte dies nahezu keinen Effekt auf den Klimawandel. Daher müssen alle Nationen in einer Allianz der Willigen zusammenarbeiten. Leider sehen wir jedoch immer weniger internationale Kooperation.

Es gibt gute Lösungen 

Deutschland gilt oft als ein Ökoweltmeister. Aber sind nicht andere Länder schon weiter als unser Autoland? Welche positiven Beispiele sehen Sie?

Latif: Vorweg: Deutschland hat immerhin seine Emissionen seit 1990 um fast 40 Prozent gesenkt, wenn auch teilweise durch glückliche Umstände wie die Wiedervereinigung. Der weltweite Ausstoß ist währenddessen um 60 Prozent gestiegen. Da stehen wir also ganz gut da. Anderseits hat Schweden schon seit 1991 eine CO2-Steuer, die Schweiz seit 2008. Die Abgaben sind dort deutlich höher als in Deutschland.

Gleichzeitig hat man aber andere Steuern gesenkt oder abgeschafft, man hat die Menschen entlastet, soziale Projekte gefördert und innovative Ideen auf den Weg gebracht. Deshalb ist dort die Akzeptanz viel größer. Meine große Sorge ist, dass Deutschland den Anschluss an die zukunftsweisenden Technologien verpasst und seine führende Wirtschaftskraft verspielt.

Sind Sie trotz der düsteren Prognosen noch optimistisch, dass wir das Ruder herumreißen?

Latif: Natürlich. Ohne Hoffnung kann man doch nicht leben. Ich gehe nicht jeden Tag zum Weinen in den Keller. Die guten Lösungen gibt es. Die Welt muss sich nur einig werden, sie einzusetzen. Doch zur Wahrheit gehört: Die Erde braucht uns Menschen nicht.  

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