Die Netflix-Dokumentation Seaspiracy gehörte in diesem Frühjahr zu den zehn meistgesehenen Filmen. Sie dürfte viele Menschen aufgerüttelt haben. Am Pranger: überfischte Meere, mafiöse Strukturen in der Fischereiindustrie und angebliche Nachhaltigkeitssiegel, die ihr Papier nicht wert sind.
Nicht alle Fakten im Film sind korrekt recherchiert, und möglicherweise skandalisiert er auch etwas zu stark, wie ihm selbst Meeresschützer vorwerfen. Doch die Grundbotschaft stimmt: Die Lage ist ernst. Sehr ernst.
93 Prozent der Fischbestände bis an ihre Grenzen befischt
Der Hunger auf Fisch ist weit größer als das, was die Weltmeere hergeben. Die Folge ist Überfischung, und sie betrifft die großen Ozeane genauso wie die kleine Ostsee vor unserer Haustür.
93 Prozent der weltweiten Fischbestände sind bis an ihre Grenzen befischt, mehr als ein Drittel davon sogar bereits überfischt, wie der Fischereireport der Welternährungsorganisation FAO im vergangenen Jahr feststellte. 90 Prozent der großen Raubfische wie Thunfisch, Schwertfisch und Kabeljau sind bereits aus den Ozeanen verschwunden.
Fischfang setzt mehr CO₂ frei als Luftfahrt
Zerstörerisch wirkt sich der Fischfang nicht nur auf das ökologische Gleichgewicht im Meer, sondern auch auf den Klimawandel aus. In der Kritik steht unter anderem die Schleppnetzfischerei, mit der rund ein Viertel des weltweiten Fischs eingeholt wird. Diese kilometerlangen Netze können sehr weit in die Tiefsee abgesenkt werden und während eines Fanges zehntausende Kilo Meerestiere auf einmal einholen.
Als Grundschleppnetze werden sie bis auf den Meeresboden herabgelassen, zerstören mit ihren integrierten Metallplatten riesige Seegraswiesen, Korallenriffe oder Muschelbänke und verwüsten damit wertvollen Lebensraum auf Jahrzehnte.
Eine aktuelle Studie von 26 US-amerikanischen Klimawissenschaftlerinnen und Ökonominnen rechnet vor: Die Grundschleppnetzfischerei in den Ozeanen setzt mit 1,5 Gigatonnen jährlich mehr CO₂ frei als die weltweite Luftfahrt. Wie das? Indem sie jene Unterwasserwelten aufreißt, die in den letzten 50 Jahren große Mengen des menschgemachten CO₂ geschluckt haben: Riesige Seegraswiesen etwa können pro Quadratkilometer zehn Mal so viel CO₂ speichern wie unser Wald.
Weniger Fisch essen – ist das die Lösung?
Sollte die Menschheit aufhören, Fisch zu essen? Der Film Seaspiracy legt das nahe. Doch immerhin ist Fisch für rund drei Milliarden Menschen weltweit eine lebenswichtige Ernährungsgrundlage, und besonders in den Entwicklungsländern ist er als erschwingliche Proteinquelle schwer zu ersetzen.
Auch der WWF legt in seinem Fischratgeber neuerdings nahe, dass eine Reduktion des Fischkonsums das beste ist für den Schutz der Weltmeere. Der Fischereiexperte des WWF Philipp Kanstinger ist jedoch überzeugt: "Wir könnten Fischerei so gestalten, dass sie in Einklang steht mit einer gesunden Ernährung." Und anders als manche Länder im globalen Süden haben wir die Wahl: Wir können bewusst nur bestimmte Fischarten einkaufen. Und ja: Wir können auch weniger Fisch essen und dessen einzigartige Nährstoffe klug ersetzen.
Welcher Fisch geht, welcher nicht?
Es ist leider nicht ganz einfach für Verbraucher, hier den Überblick zu behalten. Welcher Fisch noch guten Gewissens im Einkaufskorb landen kann, das hängt vor allem von drei Faktoren ab: Wie gesund sind die Bestände im Fanggebiet, wird nur so viel aus dem Meer gezogen, dass sich diese Bestände immer wieder erholen können und mit welcher Methode werden sie gefangen. Viele Fischarten sind es inzwischen nicht mehr, die Experten ohne Bedenken empfehlen können: Der heimische Karpfen gehört dazu.
Dr. Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung gibt auch für Wildlachs aus Alaska und Sprotten aus der Nordsee grünes Licht. Außerdem für Alaska-Seelachs aus bestimmten gesunden Beständen im Nordpazifik. In unserem Test haben wir Tiefkühlfisch-Produkte untersucht. Viele sind empfehlenswert.
Die Küstenfische Scholle, Flunder und Steinbutt sind laut Froese in Ordnung, wenn sie aus der Ostsee stammen und mit Stellnetzen gefangen wurden.
Verbraucher können nur schwer erkennen, welcher Fisch gekauft werden kann
Auf Tiefkühlfisch im Supermarkt sind häufig das genaue (Sub-)Fanggebiet und auch die Fangmethode deklariert oder lassen sich über einen QR-Code in Erfahrung bringen. Im Restaurant oder beim Fischhändler müssen sie danach fragen. Als ob das nicht kompliziert genug wäre, ändern sich die jeweiligen Bestände auch immer wieder und damit auch die Empfehlungen der Experten.
Eine gute Übersicht bietet der Fischratgeber des WWF, der mehrmals im Jahr aktualisiert wird und Fischarten mit einem Ampelsystem bewertet.
Einige populäre Fischarten sind dort zumindest für einzelne Fanggebiete grün und damit in den Augen des WWF eine "gute Wahl":
- Mit pelagischen Scherbrettnetzen gefangener Rotbarsch aus der Nordostarktis oder Heilbutt aus europäischen Aquakulturen gehören derzeit dazu.
- Auch Miesmuscheln sind laut WWF okay, wenn sie aus Aquakulturen stammen.
Es gibt aber auch etliche bedrohte Fischarten, die nicht in den Einkaufskorb gehören, ganz egal wie und wo sie gefischt wurden. Dazu gehören:
- Aal und Dornhai (vom Aussterben bedroht)
- Zackenbarsch
- Rochen
- Roter Thunfisch
Händler und Restaurants bieten jedoch auch solche Arten wie selbstverständlich an.
Immer mehr Fischereien mit MSC-Siegel nicht nachhaltig
Mal ehrlich: Bei diesem Dschungel aus Fangmethoden und sich ständig ändernden Beständen ist ein verantwortungsvoller Fischeinkauf eine ziemlich anspruchsvolle Angelegenheit. Umso dringender bräuchte es ein gutes Siegel, das nachhaltigen Wildfisch auf den ersten Blick erkennbar macht.
Mit dieser Idee ist das blaue Label Marine Stewardship Council (MSC) vor gut 20 Jahren angetreten. Doch in den letzten Jahren häufen sich die Kritikpunkte an dem Siegel, und zuletzt hat sich auch der WWF, der den MSC vor über 20 Jahren mitgegründet hatte, distanziert.
"Eine wachsende Anzahl an Fischereien im MSC sind aus unserer Sicht nicht nachhaltig", begründet Philipp Kanstinger. Die Vorwürfe: Die Unabhängigkeit des MSC sei gefährdet, weil die Zertifizierer von den Fischereien selbst ausgesucht und bezahlt würden; der Standard wurde in den letzten Jahren mehr und mehr aufgeweicht, sodass es heutzutage leichter geworden sei, für mit Schleppnetzen oder Lockbojen gefangenen Fisch ein Siegel zu erhalten.
Fisch-Siegel: Oft nicht mehr als ein Minimalstandard
Unser Test von Tiefkühlfisch bestätigt genau das. In seinem aktuellen Fischratgeber gibt der WWF keine generelle Empfehlung mehr für MSC-zertifizierten Fisch, sondern empfiehlt das Label nur als "schnelle Entscheidungshilfe, wenn die Zeit für den Fischratgeber nicht reicht".
Früher sei das Label der Goldstandard gewesen, sagt Kanstinger, "heute ist es nur noch ein Minimalstandard".
Aber zertifiziert sei besser als nicht zertifiziert, denn immerhin garantiere das Label zwei Punkte:
- Erstens, dass der Fisch nicht aus einer illegalen Quelle stammt.
- Und zweitens, dass die Lieferkette vom Fangschiff bis zum Verarbeiter zuverlässig rückverfolgt werden kann – eine wichtige Grundlage, um überhaupt die Nachhaltigkeit eines Fangs feststellen und Missstände beheben zu können.
Fisch-Siegel Naturland für Fisch aus Aquakultur am strengsten
Weniger verbreitet ist das Siegel Naturland Wildfisch, vergeben vom international tätigen Verband für ökologischen Landbau. Fischereibetriebe müssen bei diesem Label nicht nur ökologische, sondern auch soziale Standards entlang der gesamten Wertschöpfungskette erfüllen. Doch selbst hier können Verbraucher nicht vollkommen sicher sein, dass sich kein Fisch aus zu knappen Beständen oder problematischen Fangmethoden eingeschmuggelt hat.
Anders sieht es mit dem Siegel aus, das Naturland speziell für Fisch aus Aquakultur vergibt: Es gilt als das derzeit strengste in Deutschland. Denn die riesigen Zuchtanlagen verursachen ganz andere Probleme als der Fischfang im Meer: Massentierhaltung mit zu wenig Platz, Einsatz von Pestiziden und Antibiotika oder massenhaftes Verfüttern von Wildfisch und Soja.
Das schreibt das Naturland-Siegel vor:
- Besatzdichten, die jene von Bio-Produkten sogar noch unterschreiten.
- Verbietet das Füttern mit Wildfischen
- Regelt soziale Standards für Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fischereibetrieben
Fisch-Siegel ASC nur ein Mindeststandard
Nur ein Mindeststandard für Fisch aus Aquakultur ist dagegen aus unserer Sicht das Label ASC für verantwortungsvolle Fischzucht. Vergeben vom Aquaculture Stewardship Council, erlaubt es Futter aus bestimmten Wildfisch-Arten sowie gentechnisch verändertes Soja.
Welche Alternative gibt es zu Fisch?
Die beste Lösung von allen wäre natürlich: weniger Fisch essen. Denn wenn wir nun ungebremst Fisch aus gesunden Beständen kaufen, geraten auch diese unweigerlich unter Druck.
Allerdings: Der Gesundheit zuliebe empfiehlt die deutsche Gesellschaft für Ernährung seit jeher, ein bis zwei Mal pro Woche Fisch zu genießen. Unter anderem wegen der wertvollen Omega-3-Fettsäuren, wobei insbesondere die beiden langkettigen Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken sollen.
Doch genau sie sind auch am schwierigsten zu ersetzen. Lein-, Raps- oder Walnussöl können zwar zur Omega-3-Versorgung beitragen, aber die in ihnen enthaltene alpha-Linolensäure kann nur zum Teil in EPA und DHA umgewandelt werden.
Wer sich entschließt, häufiger auf Fisch zu verzichten, kann diese am besten durch Mikroalgen und Algenöle ersetzen, empfiehlt das Bundeszentrum für Ernährung. Es sind auch Pflanzenöle auf dem Markt, die mit DHA aus Mikroalgen angereichert sind, etwa DHA-Leinöl.
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA empfiehlt für Erwachsene eine Dosierung von 250 mg DHA pro Tag. Algen sorgen übrigens auch für einen fischigen Geschmack und liefern andere wichtige Nährstoffe. Allerdings sind die Umweltkosten der Algenproduktion nicht sehr viel kleiner als bei Fisch, wie eine Studie der Uni Halle-Wittenberg von 2020 zeigte.
Fischersatzprodukte haben andere Nährstoffe als Fisch
Wer dagegen nur den Geschmack von Fisch vermisst: Mittlerweile gibt es am Markt ein umfangreiches Sortiment von veganen Fischersatzprodukten, vom pflanzenbasierten Fischstäbchen bis zum Garnelen-Imitat. Dieser Fischersatz wird häufig auf Grundlage von Tofu oder Weizeneiweiß hergestellt, manchmal auch auf Basis von Gemüse oder Jackfrucht.
Was die Nährstoffe angeht, können diese Produkte allerings in der Regel nicht mit dem tierischen Original mithalten, wie eine Untersuchung der Verbraucherzentrale Hessen zeigt. Denn pflanzliche Proteine verwertet der Körper anders als tierische. Außerdem sind die Fischersatzprodukte zum Teil hoch verarbeitet, und ein Omega-3-Zusatz fehlt oft ganz.
Fischfang: Was die Politik tun muss
- Die Umweltschutzorganisation Greenpeace fordert von den Vereinten Nationen, dass sie ein Netzwerk an maritimen Schutzgebieten ausweisen soll, das mindestens 30 Prozent der Meere umfasst. Derzeit sind es weniger als drei Prozent, wo Fischerei effektiv verboten oder reglementiert ist.
- Zweite Forderung von Meeresschützern an die Politik: Die EU-Fischereipolitik muss sich in ihren jährlich festgelegten Fangquoten stärker an den wissenschaftlichen Empfehlungen für nachhaltigen Fischfang orientieren. Das hieße: Es wird nur so viel gefischt, dass ein Grundstock bleibt und die Bestände sich wieder gut erholen können. "Diese Empfehlungen werden leider häufig nicht eingehalten", beklagt Philipp Kanstinger.
- Dritter Punkt auf der To-do-Liste der Politik wäre es, die illegale Fischerei in den Griff zu bekommen. Denn zu den 90 Millionen Tonnen Fisch, die jährlich gefischt werden, addieren sich noch einmal 30 Prozent hinzu, die illegal aus den Meeren verschwinden – auf Booten, die sich um Fangregeln oder Schutzgebiete überhaupt nicht scheren.
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