Ein Hochzeitskleid für 28,48 Euro, fünf Paar Socken für 1,97 Euro oder ein Halsventilator zum Umhängen für 6,98 Euro: Mit Minipreisen, Rabattangeboten von bis zu 90 Prozent und teils auch mit eher skurrilen Produkten sorgt der chinesische Online-Marktplatz Temu zur Zeit für Aufsehen im deutschen Online-Handel. Die Temu-App war der Website Appfigures zufolge Mitte August die am häufigsten heruntergeladene Gratis-App bei Google Play und im Apple-Store in Deutschland.
Dabei ist Temu nicht unumstritten. Die Verbraucherzentrale NRW warnte erst kürzlich, die niedrigen Preise gingen "oft mit einer geringen Produktqualität und -sicherheit einher". Außerdem müssten Besteller damit rechnen, dass Zollgebühren und Einfuhrumsatzsteuer anfallen könnten, die den Endpreis erhöhten. Der Westdeutsche Rundfunk stieß bei Testkäufen auf zum Teil gefährliche Mängel bei technischen Geräten. Temu äußerte sich auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur zunächst nicht zu den Vorwürfen.
Temu streitet jede Verantwortung ab
Tatsächlich fühlt sich Temu wohl nicht dafür verantwortlich. Das Unternehmen tritt selbst nicht als Verkäufer auf, sondern stellt den Händlern nur seinen Marktplatz als Plattform zur Verfügung. In den Temu-Nutzungsbedingungen heißt es ausdrücklich: "Wir haben keine Kontrolle über und garantieren keine Existenz, Qualität, Sicherheit, Eignung oder Rechtmäßigkeit der Produkte".
Auch für Wahrhaftigkeit, Genauigkeit oder Rechtmäßigkeit von den in den Produktauflistungen enthaltenen Informationen fühlt sich der Marktplatz nicht zuständig.
Dabei ist Temu alles andere als eine kleine Klitsche. Hinter Temu steht das in Shanghai ansässige Unternehmen PDD Holdings. Es ist in China bekannt für die beliebte App Pinduoduo, eine der am schnellsten wachsenden E-Commerce-Plattformen des Landes. Ähnlich wie Temu setzt Pinduoduo auf hohe Rabatte, um Kunden zu locken. Nach eigenen Angaben hat die Plattform mehr als 900 Millionen Nutzer in der Volksrepublik.
Allerdings gab es auch immer wieder Kritik an dem Angebot. So geriet Pinduoduo bereits vor Jahren in die Schlagzeilen, weil Nutzer dem Unternehmen vorwarfen, minderwertige oder gar gefälschte Waren anzubieten. Auch wegen angeblich sehr hoher Arbeitsbelastung bei Pinduoduo geriet das Unternehmen unter Druck.
Hinter Temu könnte Zwangsarbeit stecken
Seit dem vergangenen Jahr treibt PDD gezielt die Expansion ins Ausland voran. Im September 2022 startete Temu in den USA und wurde dort schnell zur meist heruntergeladenen App. Doch schnell geriet das chinesische Unternehmen ins Visier der US-Politik.
So warf ein Bericht eines Kongressausschusses sowohl Temu als auch der ebenfalls chinesischen App Shein kürzlich vor, Produkte anzubieten, die mit Zwangsarbeit in der westchinesischen Region Xinjiang hergestellt wurden. Es bestehe ein "extrem hohes Risiko", dass die Lieferketten durch Zwangsarbeit kontaminiert seien, warnte der Bericht.
Was die Zukunftsaussichten von Temu in Deutschland angeht, sind sich die Branchenbeobachter uneins. Der Softwareunternehmer und Branchenkenner Alexander Graf meinte kürzlich: "Temu ist keine Eintagsfliege." Das Unternehmen biete echte Innovationen in Sachen Lieferkette, Warenmanagement und Logistik.
Deutlich skeptischer ist Kai Hudetz vom Kölner Institut für Handelsforschung (IFH). "Vieles spricht dafür, dass Plattformen wie Wish oder Temu trotz des jüngsten Hypes am Ende Nischenanbieter bleiben werden", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Kunden scheuen lange Lieferzeiten
"Temu lockt mit Niedrigpreisen, mit Gewinnspielen, riesigen Rabatten und mit künstlicher Verknappung des Angebots. Die Plattform will gezielt zu Spontankäufen inspirieren, die man gar nicht geplant hatte", beschrieb Hudetz das Geschäftsmodell. Für eine gewisse Zielgruppe sei so eine Gamification des Einkaufs natürlich spannend. Doch spreche wenig dafür, dass die Strategie langfristig Erfolg haben werde.
"Die Menschen suchen hierzulande in der Regel nicht den allerniedrigsten Preis, sondern ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis", sagte Hudetz. Außerdem seien sie verwöhnt, was Liefergeschwindigkeit und Retourenabwicklung angehe. Hier stünden Temu und Co. vor beträchtlichen Herausforderungen.
"Die meisten Konsumentinnen und Konsumenten denken schon bei der Bestellung das Thema Retouren mit – und es gibt in diesem Bereich erhebliche Vorbehalte gegenüber asiatischen Marktplätzen, zumal auch oft Zollgebühren hinzukommen können", sagte Hudetz. Und bei der Liefergeschwindigkeit könnten Temu und Co. ohnehin nicht mit etablierten Anbietern wie Amazon oder Otto mithalten. Außerdem spreche das wachsende Nachhaltigkeitsbewusstsein der Menschen gegen einen dauerhaften Erfolg derartiger Modelle.
Ähnlich urteilt der E-Commerce-Experte Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein. Temu sei "Ultra-Fast-Fashion mit Turbolader", meint der Branchenkenner. Allerdings zeige die Entwicklung in den USA, dass ultraschnell bei solchen Anbietern oft auch für die Lebensdauer der Geschäftsmodelle gelte. "Denn ihre Halbwertzeit ist offensichtlich auch ultrakurz."
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