Genau 21 Grad: Die Weltmeere sind in den ersten Monaten dieses Jahres im Durchschnitt so warm gewesen wie noch nie seit Beginn der Messungen in den 1980er Jahren. Was auf den ersten Blick nach gutem Badewetter für den Urlaub klingen mag, ist für die Wissenschaft ein schrilles Alarmsignal in Sachen Klimawandel und Extremwetter – auch für die Situation an Land.
"Es braucht sehr viel Energie, um Wasser zu erwärmen", sagt Anders Levermann, Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). "Das ist ein monströser Effekt, den wir da gerade sehen." Auch andere Forscher in Deutschland sind beunruhigt.
Wärmere Meere: Auch Forscher in Deutschland besorgt
Gemessen hat die Werte die US-amerikanische Wetter- und Ozeanographiebehörde NOAA. Das Institut legt seit 1981 unter anderem mit Hilfe von Satelliten und speziellen Bojen Messreihen mit den täglichen Oberflächentemperaturen der Weltmeere vor. Der daraus errechnete Mittelwert gilt als globaler Seismograph – regional können die Temperaturen deutlich höher oder niedriger liegen.
Dieses Jahr begann mit 20,6 Grad Celsius durchschnittlicher Wassertemperatur vergleichsweise moderat. Die Werte erreichten nicht die besorgniserregenden Spitzenwerte von 2016, als die Messkurve bereits Mitte Februar an der 21-Grad-Marke kratzte. Doch dafür schnellte sie in diesem Jahr ab Mitte März nach oben wie noch nie seit Beginn der Messungen.
Ozeane Anfang Mai so warm wie noch nie
21,0 Grad im Mittel hielten sich auch erstmals bis Ende April, obwohl die Kurve nach den Erfahrungen der vergangenen 40 Jahre – die Durchschnittstemperatur unterliegt saisonalen Schwankungen – längst wieder hätte abflachen sollen. Auch der jüngste Stand vom 3. Mai mit 20,9 Grad liegt über allen bisherigen Messungen für diesen Zeitraum. Zum Vergleich: 1985 lag die Meerestemperatur Ende April im Mittel noch bei 20 Grad.
Bereits ein Anstieg um 0,1 Grad im Ozean entspricht einer gigantischen Energiemenge, ordnet es Forscher Levermann ein. "Die Wärmekapazität des Wassers ist sehr viel höher als die der Luft oder des Landes", ergänzt er. "Man kann daran sehen, dass wir selbst innerhalb der globalen Erwärmung so weit außerhalb der normalen Schwankungen sind, dass das besorgniserregend und beunruhigend ist."
Kleinste Temperaturveränderungen im Meer können "das globale Klimasystem durcheinanderwirbeln"
"Temperaturen im Meer sind ein absoluter Masterschalter", sagt auch Thorsten Reusch, Biologe am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Kleinste Veränderungen können das globale Klimasystem durcheinanderwirbeln. "Was wir jetzt sehen, ist jenseits aller bisher aufgezeichneten Wassertemperaturen. Das ist auf jeden Fall bemerkenswert bis bedenklich."
Für Laien möge sich ein Anstieg von 0,2 Grad nach wenig anhören. Das sei aber der globale Mittelwert. Meerwasser könne sich regional viel stärker erwärmen, in den Tropen bis über 30 Grad Celsius. Das hat Folgen. "Bei vielen Organismen im Meer ist die Wassertemperatur die Körpertemperatur."
Fische pro Grad Wassererwärmung drei Prozent kleiner
Fische wichen bei einer Erwärmung in kühlere Meeresregionen aus, so Reusch. Dadurch komme es zu einer Verschiebung der Artenzusammensetzung mit Folgen für die Nahrungsketten. "Es wurde auch beobachtet, dass Fische in wärmerem Wasser nicht mehr so groß werden können – pro Grad bleiben sie um drei Prozent kleiner", ergänzt Reusch.
Für Korallen, Hotspots der biologischen Vielfalt des Meeres, gibt es eine Grenze: Ab 30 Grad fingen sie an, auszubleichen und abzusterben, erläutert Reusch. "Im Mittelmeer gab es im vergangenen Jahr eine massive Hitzewelle mit bis zu 30 Grad Wassertemperatur. Das war fünf Grad über normal." Dieses Extrem habe zum Absterben von Korallenarten wie Gorgonien und Edelkorallen geführt.
Wassererwärmung hat Auswirkungen an Land
Doch es geht nicht nur um die Meeresbewohner. Physikalische Prozesse wie Verdunstung wirken sich auch auf das Land aus. Die Ozeane als Wärmepuffer seien der große Energielieferant für die Atmosphäre, erläutert Klimaforscher Levermann. "Wenn diese Energie frei wird, gibt es häufiger und intensivere Extreme." Das seien dann zum Beispiel Taifune und Hurrikans.
"Aber es geht auch um Starkregen, denn eine wärmere Atmosphäre kann mehr Wasserdampf halten. Dadurch werden Überschwemmungen verstärkt, auch in unseren Breiten." Für den Wissenschaftler sind die Ozeane, die rund 70 Prozent der Erde bedecken, wie eine gigantische Klimaanlage. "Und die läuft gerade warm."
Eismeer schmilzt schneller
Auch Ökologe Reusch sieht die Temperaturkurve der Meere mit Sorge. "Wenn wir wie jetzt von einem höheren Niveau aus starten, haben wir natürlich auch ein höheres Risiko, uns im Sommer auf der Nordhalbkugel neue Extremwerte einzufangen." Und auch für die eisbedeckten Regionen der Meere wird es bei immer wärmeren Wasser enger - Stichwort Schmelze. Steigende Wasserpegel bedrohen dann wiederum das Land.
In den vergangenen Jahren hat das natürliche Wetterphänomen La Niña dem Meeresklima eine kleine Verschnaufpause beschert. Es ist die kalte Phase eines Zyklus im östlichen Pazifik, die sich weltweit auswirkt. Forschende vermuten, dass die Natur den Schalter hier gerade umlegt und sich das regelmäßige Gegenstück ankündigt: die Phase El Niño, bei der Wärme aus der Tiefe des Ozeans nach oben gepumpt wird.
"Es ist deshalb sehr gut möglich, dass die beginnende Entwicklung zu einer El-Niño-Phase, kombiniert mit der menschgemachten allmählichen Erwärmung, zu neuen Allzeitrekorden der global gemittelten Temperatur führen wird", urteilt Klimaphysiker Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Das betrifft auch das Land – vielleicht in diesem oder im nächsten Jahr, oder auch in beiden.
Neben Wäldern und Böden gehören Ozeane auch zu den größten Kohlenstoffsenken der Erde und dämpfen massiv den Treibhauseffekt – noch. "Bisher verschwanden 30 Prozent des menschengemachten Kohlendioxids über die so genannte biologische Kohlenstoffpumpe in der Tiefsee. Das wird durch die Erwärmung abgeschwächt", sagt Ökologe Reusch. Für Klimaforscher Levermann betritt die Menschheit mit der aktuell gemessenen Ozeanerwärmung unbekanntes Territorium.
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