Wachstum bedeutet Wohlstand. So ist es früher immer gewesen. Und glaubt man den Politikern und Ökonomen, dann stimmt diese Formel heute noch genauso wie vor 50 Jahren. Das andere Zauberwort heißt Bruttoinlandsprodukt, in Kurzform BIP. Für die Statistiker ist das BIP schlicht die Summe aller Güter und Dienstleistungen eines Landes, die im Jahr produziert und gehandelt werden. Für viele Bundesbürger verbindet sich das BIP noch heute mit den Erinnerungen an das Glück des deutschen Wirtschaftswunders. Damals in den 50ern stieg das Bruttoinlandsprodukt jährlich um sagenhafte acht Prozent. Und nach den Entbehrungen des Krieges bescherte es den Menschen wieder bescheidenen Konsum: einen Kühlschrank, den ersten Fernseher, eine Reise nach Italien. Um 1960 herrschte in Deutschland sogar Vollbeschäftigung - dem rasanten Wirtschaftswachstum sei Dank.
Heute leben die Kinder und Enkel dieser Generation im Überfluss. Legt man das Bruttoinlandsprodukt zugrunde, dann kann Otto Normalverbraucher sich fast fünfmal mehr kaufen als seine Großeltern vor 40 Jahren. Die Autos sind größer und schneller, die Wohnungen komfortabler, Urlaubsreisen mit dem Billigflieger zur Selbstverständlichkeit geworden. Vollautomatische Geschirrspüler und Wäschetrockner erleichtern uns die tägliche Hausarbeit, im Supermarkt haben wir die Qual der Wahl, über Handy und Internet sind wir rund um die Uhr weltweit vernetzt.
Dennoch: Der Optimismus der Wirtschaftswunderjahre scheint dahin. Stattdessen werden die Menschen von düsteren Vorahnungen und Zukunftsängsten geplagt. Sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz, ihre Ersparnisse und ihre Rente. Von Vollbeschäftigung ist schon lange keine Rede mehr. Als Favorit für das Wort des Jahres bietet sich die Eurokrise an.
Der Abschwung ist für die Umwelt oft ein Segen
Und noch etwas hat sich geändert. Während in den Industrienationen die Wachstumskurve trotz einiger Dellen seit Jahrzehnten nach oben klettert, schmelzen fernab die Polkappen und Gletscher mit bedrohlicher Geschwindigkeit. Die Erde heizt sich auf. Die Meeresspiegel steigen, manche Regionen werden zunehmend von Wirbelstürmen und Überschwemmungen heimgesucht. Anderswo herrscht Dürre, die Nahrungsmittel werden knapp, die Wüsten dehnen sich aus. Schuld ist der durch industrielles Wachstum verursachte Treibhauseffekt, genauer: die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas, die Abholzung der Regenwälder, die intensive Nutzung von Ackerflächen, der massenhafte Verzehr von Hamburgern und saftigen Rindersteaks. Das alles puscht nicht nur das BIP in die Höhe, sondern auch die Freisetzung des Treibhausgases CO2. Schon jetzt ist weltweit die Hälfte aller fossilen Energiequellen verbraucht. In den vergangenen 100 Jahren erhöhte sich die durchschnittliche Temperatur um 0,8 Grad. Und wenn wir weiter auf dem Pfad des Wachstums wandeln, kommen bis zum Jahr 2100 wahrscheinlich noch einmal vier Grad dazu – mit katastrophalen Folgen für das Öko-System unseres Planeten. Um das zu verhindern, müssten wir in Europa bis 2050 den Ausstoß an Treibhausgasen um 80 Prozent verringern. Insofern bedeutet jeder Einbruch des BIP für die Umwelt eine kleine Atempause. Tatsächlich gehen in Krisenjahren die CO2-Emissionen erstmals seit langer Zeit zurück.
Klimaschutz und Wachstum gehen nicht zusammen
Steigt das BIP wie gehabt, sind wir auf dem direkten Weg, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Denn das BIP ist gegenüber zukünftigen Gefahren blind. Schlimmer noch: Es täuscht darüber hinweg. Es misst nur die Geldflüsse - egal, ob die Investitionen dazu verwendet werden, ein klimafreundliches Solarkraftwerk zu bauen, spritfressende Geländewagen zu produzieren oder die Folgeschäden eines Tankerunglücks zu reparieren. So gesehen, war zum Beispiel der legendäre Wirbelsturm Katrina, der 2005 im wahrsten Sinne des Wortes ganz New Orleans versenkte, ein Segen für die amerikanische Volkswirtschaft. Die zig Milliarden für den Wiederaufbau der Stadt ließen das US-Bruttoinlandsprodukt in die Höhe schnellen. Die Zerstörungen dieser Naturkatastrophe, die von den Menschen möglicherweise selbst verursacht wurde, fielen glatt unter den Tisch.
Nicht nur die Umweltschäden, auch andere negative Begleiterscheinungen des industriellen Wachstums werden vom BIP nicht erfasst. Beispiel Zigarettenkonsum: Die Umsätze der Tabakbranche zählen genauso zum BIP wie die ärztlichen Leistungen für die Behandlung von Lungenkrebs oder Herzerkrankungen. Positiv zu Buche schlagen auch die Gewinnsteigerungen der Pharmaindustrie. Zum Wohlstand - im Sinne von Gemeinwohl - steuern all diese Posten aber nichts bei. Bestenfalls dienen sie dazu, die zerstörerischen Nebeneffekte von Wirtschaftswachstum zu reparieren. Das gilt ebenso für Verkehrsunfälle oder übermäßigen Alkoholkonsum. Wenn sich immer mehr Jugendliche ins Koma saufen, klettern die Einnahmen der Spirituosenhersteller und damit auch das Inlandsprodukt. Dass Alkoholismus in Wahrheit ein Selbstmord auf Raten ist, fällt statistisch nicht ins Gewicht.
Reichtum durch Raubbau an der Natur erkauft
Seit der Club of Rome 1972 in seiner Studie Die Grenzen des Wachstums den Kollaps der Weltwirtschaft prognostizierte, haben kritische Wissenschaftler und Klimaschützer immer wieder vor den fatalen Konsequenzen eines ungebrochenen Wachstums gewarnt. Doch die Politik hält unerschütterlich an den Glaubenssätzen der Nachkriegsära fest. Danach verspricht Wachstum mehr Jobs, mehr Einkommen, mehr Konsum, mehr Investitionen, mehr Geld für die Bildung und – als Abfallprodukt – auch mehr Hilfe für die Schwachen.
Dabei hat gerade der Zusammenbruch der Finanzmärkte die Zweifel an der Wachstumsideologie bestärkt. Denn mit dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase wurde endgültig klar, dass eine sich ständig beschleunigende Wachstumsspirale weder Arbeit noch soziale Sicherung garantiert, geschweige denn so etwas wie Gerechtigkeit. Zudem ist seit den 50-Jahren die Wachstumsrate, also das Tempo des Wachstums, in allen Industrienationen kontinuierlich gesunken. In den 70er-Jahren betrug sie durchschnittlich 2,7 Prozent, in den 90er-Jahren 1,3 und im zurückliegenden Jahrzehnt 0,8 Prozent. In absoluten Zahlen haben sich die Zuwächse in diesem Zeitraum allerdings kaum verändert. Es ändert sich jedoch die Verteilung des Einkommens. Das Lohnniveau ist in den letzten Jahren gesunken, denn die Teuerungsrate zehrt die Einkommenssteigerungen auf. Dagegen steigen nach Angaben des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) die Einkünfte aus Unternehmen und Vermögen, von denen aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung profitiert. Das heißt: Die Einkommensunterschiede werden immer größer, die Armut nimmt zu. Über die Hälfte der neu geschaffenen Stellen sind sogenannte prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit, Minijobs oder schlecht bezahlte Arbeiten. Wirtschaftswachstum kommt also bei den meisten Menschen gar nicht an. Und wir leben in doppeltem Sinne auf Kredit. Zum einen gründet Wachstum auf einem steigenden Schuldenberg, den unsere Kinder und Enkel mit Zins und Zinseszins begleichen müssen. Zum anderen wird permanentes Wachstum durch einen Raubbau an der Natur und Umwelt erkauft.
Ein Zahlenspiel des Wirtschaftswissenschaftlers Meinhard Miegel verdeutlicht den ganzen Irrsinn der Wachstumsfantasien: Würde das BIP in den Industrienationen ungefähr so weiter zunehmen wie in den vergangenen 30 Jahren, die Weltbevölkerung von heute 6,8 auf 9 Milliarden anwachsen und die Kluft zwischen reichen und armen Ländern nicht größer werden, dann müsste sich die globale Wirtschaftsproduktion innerhalb von 90 Jahren versechsfachen. Sollen die armen Völker das Niveau der wohlhabenden erreichen, müssten weltweit sogar 33-mal mehr Güter und Dienstleistungen produziert werden als heute. Angesichts versiegender Rohstoffquellen und globaler Erwärmung ist das reine Fiktion.
Nicht mehr Glücksgefühl durch mehr Geld
Wachsender Wohlstand steigert auch nicht automatisch das Glück und die Lebenszufriedenheit der Menschen, das ist durch viele Studien belegt. Die Glücksforschung liegt im Trend. Den Anfang machte 1972 ein aufgeklärter Monarch in dem kleinen Himalaja-Staat Bhutan, der seine Untertanen zufriedener machen wollte. Als ironischen Gegenentwurf zum BIP entwickelte der weise König das sogenannte Bruttonationalglück, das noch heute Güter wie Kultur, Tradition, einen angemessenen Umgang mit der Zeit oder eine intakte Natur als wichtigste Entwicklungsziele erfasst. Inzwischen haben viele Wissenschaftler Ähnliches versucht.
Es gibt den Human Development Index (HDI), den Happy Planet Index (HPI) oder die World Map of Happiness, zu Deutsch: den Weltatlas des Glücks. In all diesen Studien geht es darum, den nationalen Gemütszustand durch Indikatoren wie subjektive Zufriedenheit, Gesundheit, Bildung, Lebensstandard, Lebenserwartung oder Nachhaltigkeit zu ermitteln. Je nach Gewichtung kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Die britischen Autoren des HPI beispielsweise erklären in ihrem Report 2012 die Bewohner Costa Ricas zu den glücklichsten Zeitgenossen – als ein Volk mit hoher Zufriedenheit und Lebenserwartung und einem maßvollen Umweltverbrauch. Dicht dahinter folgten weitere kleinere Staaten aus Mittelamerika. Dagegen müsssen sich die USA wegen ihrer schlechten Öko-Bilanz unter 151 Ländern mit Rang 105 begnügen, beim ökologischen Fußabdruck sogar nur mit Platz 145.
Menschen vergleichen sich mit den anderen
In anderen Glücksmessungen schneiden die entwickelten Industrienationen besser ab, obwohl auch dort die reichsten und größten Länder meist nicht zur Spitzengruppe gehören. Auf dem Weltatlas des Glücks haben kleinere Staaten wie Dänemark die Nase vorn, die vor allem durch ihr Bildungs- und Gesundheitssystem punkten. Der HDI wiederum, der von UN-Forschern entwickelt wurde, bescheinigt Norwegen, Australien und den Niederlanden die höchste Lebensqualität unter den sehr hoch entwickelten Ländern. Deutschland als eine der reichsten Industrienationen rangiert auf der Stufenleiter des Glücks ein ganzes Stück dahinter. Schlusslichter sind überall die schwarzafrikanischen Länder.
In zwei entscheidenden Punkten stimmen die Studien überein: Die glücklichsten Menschen leben dort, wo es ihnen materiell gut geht. Aber ab einer bestimmten Grenze macht Geld nicht glücklicher. Anders gesagt: In armen Ländern finden die Wissenschaftler einen deutlichen Zusammenhang zwischen Wachstum, Wohlstand und Glücksempfinden. Wenn in einem Land aber ein bestimmtes Grundniveau erreicht ist, hat Wirtschaftswachstum statistisch nichts mehr mit einem Zuwachs an Lebensfreude zu tun.
Wo die durchschnittliche Einkommensgrenze liegt, ab der dieser Effekt eintritt, lässt sich in Geld nicht so genau beziffern. Manche Forscher taxieren sie auf 20.000 bis 50.000 Dollar im Jahr. Allerdings sind die Ansprüche in den Ländern unterschiedlich. Auch die Einkommensverteilung spielt eine Rolle. Wo sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet wie in Russland, China oder Indien, hinkt das subjektive Wohlbefinden klar hinter den Wachstumsraten hinterher.
Reiche haben mehr Zukunftsängste
Zuverlässig belegt ist auf jeden Fall, dass die Deutschen heute nicht glücklicher sind als in den 70er-Jahren. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Warum stagniert die Zufriedenheit, wenn wir uns doch so viel mehr Angenehmes und Schönes leisten können? Eine wichtige Ursache sieht der amerikanische Psychologe Barry Schwartz gerade in der enorm gestiegenen Wahlfreiheit in allen Lebensbereichen: die alltäglichen Entscheidungsqualen angesichts eines unüberschaubaren Angebots an Pizzasorten, Jeansmarken oder digitalen Kameras. Die Vielfalt der Möglichkeiten an Fernsehkanälen, Telefonanbietern oder Freizeitvergnügen. Das alles sei, glückstechnisch gesehen, eher eine Last als ein Gewinn.
Es gibt noch eine andere Erklärung: Die Glücksforschung hat nämlich herausgefunden, dass Menschen sich mit anderen vergleichen – mit Kollegen, Nachbarn, Bekannten – und dass ihre Zufriedenheit zum großen Teil vom Ergebnis dieses Vergleichs abhängt. Wenn sie gefragt werden, ob sie 90.000 Euro verdienen wollen in einer Welt, in der die meisten nur 80.000 verdienen, oder ob sie lieber 120.000 bekommen wollen in einer Welt, in der die meisten 130.000 verdienen, entscheiden sie sich fast immer für die ersten 90.000 Euro. Das Wichtigste ist ihnen nämlich nicht wie viel, sondern dass sie mehr auf dem Konto haben als die meisten anderen. Ziehen wir unser Glück also aus dem Unglück der anderen? Es sind der Status, die soziale Anerkennung, die zählen. Und wer oben angekommen ist, fürchtet in der Krise den Absturz umso mehr.
Viele Wissenschaftler stehen der Glücksforschung allerdings skeptisch gegenüber. Denn wie Menschen ihre Freude und Zufriedenheit bewerten, hängt teilweise von psychologischen Faktoren ab, die durch die Politik gar nicht beeinflusst werden können. Und wie sich Befragte über ihre Gefühle äußern, ist auch kulturell bedingt. Beispielsweise gelten die Deutschen als Weltmeister im Jammern und schneiden vielleicht auch deshalb in Glücksumfragen schlechter ab als etwa die Dänen oder die Schweizer. Vor allem aber können Umfragen zum persönlichen "Well-Being", wie man heute sagt, langfristige Gefahren wie den Klimawandel nicht richtig erfassen. Möglicherweise widersprechen sie den Zielen einer nachhaltigen Umweltentwicklung sogar. Es kann ja sein, dass die Menschen nicht gerade glücklich darüber sind, dass sie in Zukunft für einen Liter Sprit 2,50 Euro bezahlen, weniger Fleisch essen und mehr Bio-Gemüse kaufen sollen. Und vielleicht hängt ihr momentanes Wohlbefinden ja davon ab, regelmäßig zum Skilaufen in die Alpen zu fliegen. Nur muss man dort die Pisten wegen der globalen Erwärmung zunehmend mit Kunstschnee präparieren, was andererseits den Klimawandel weiter verstärkt. Die mehr als 3.000 Schneekanonen in Europa verbrauchen in jedem Winter so viel Energie wie eine Stadt mit 150.000 Einwohnern und so viel Wasser wie die Millionenstadt Hamburg im Jahr.
Die Glücksforschung ist nicht blind wie das BIP. Aber sie ist doch zu kurzsichtig, um den gesellschaftlichen Fortschritt anzutreiben. Diese Rolle könnte der Nationale Wohlfahrtsindex für Deutschland (NWI) übernehmen, den der Heidelberger Wirtschaftswissenschaftler Hans Diefenbacher und der Berliner Nachhaltigkeitsforscher Roland Zieschank im Auftrag des Bundesumweltministeriums entwickelt haben. In einem aufwendigen Rechenverfahren versucht der NWI, eine möglichst realistische Entwicklung der nationalen Wohlfahrt abzubilden. Die NWI-Autoren haben statt Wohlstand den Begriff "Wohlfahrt" gewählt, weil sie klarmachen wollen, dass sich ihr Modell nicht nur an ökonomischen Kriterien orientiert. Wohlfahrt heißt für sie auch sozialer Ausgleich und gerechte Einkommensverteilung. Für das BIP spielen dagegen soziale Gesichtspunkte keine Rolle. Wohin das im Extremfall führen kann, zeigt ein Beispiel aus den USA: Dort steigerten die aberwitzigen Bonuszahlungen an Bankmanager das BIP um mehrere Hundert Milliarden Dollar pro Jahr. Sie täuschten nicht nur einen illusionären Wohlstand vor, sondern auch eine illusionäre Gerechtigkeit. Während unzählige Menschen durch den Finanzkollaps ihre betriebliche Altersversorgung verloren, kassieren die eigentlichen Verursacher heute immer noch Boni auf Rekordniveau.
Katastrophen steigern das Bruttosozialprodukt
Ein zweites Beispiel betrifft den Faktor unbezahlte Arbeit. Ehrenamtliche Jobs sind ebenso Teil der Wertschöpfung eines Landes wie Kochen, Waschen, Putzen und Windeln wechseln. Im Bruttoinlandsprodukt tauchen solche Leistungen aber nicht auf. Deshalb schrumpft das BIP, wenn ein Pfarrer seine Haushälterin heiratet und sie anschließend für ihre Arbeit nicht mehr entlohnt. Zum BIP zählt auch nicht, wenn ein arbeitsloser Vater unentgeltlich die Vereinsmannschaft seines Sohnes trainiert oder wenn eine Mutter zu Hause die Kinder betreut. Übernimmt eine bezahlte Tagesmutter die Aufsicht, dann sehr wohl. Im NWI dagegen wird unbezahlte Arbeit und ehrenamtliches Engagement miterfasst. Der entscheidende Unterschied zum BIP ist jedoch, dass im Modell des NWI erstmals die enormen ökologischen und sozialen Folgeschäden der Wachstumsspirale berechnet werden - die Kosten der Umweltzerstörung, des Verbrauchs von Flächen, der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, der Freisetzung des Klimagases CO2. Auch die mit Verkehrsunfällen, Lärm oder Alkoholsucht verbundenen Belastungen werden beziffert und am Ende vom Gesamtwert der erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen abgezogen. Wenn man die Verlaufskurven des BIP und des NWI übereinanderlegt, zeigt sich ein gegenläufiger Trend: Seit 1996 steigt das Bruttoinlandsprodukt langsam an, während der Nationale Wohlfahrtsindex entsprechend sinkt. Das bedeutet, dass wir in Deutschland trotz Wirtschaftswachstum immer weniger gesellschaftlichen Wohlstand haben.
Der NWI liefert keine politischen Patentrezepte. Aber würde er das BIP als Kontrollsystem und Leitlinie der Politik ersetzen, müssten wohl sämtliche Warnlampen anfangen zu blinken. Das Signal ist klar: Die Politik befindet sich mit ihrem Wachstumskurs auf dem falschen Weg, und es ist allerhöchste Zeit, das Steuer herumzureißen.
Trotz Wachstum bleibt weniger Wohlstand
Wozu brauchen wir Wachstum überhaupt? Die immergleiche Antwort der Politik lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Wachstum schafft Arbeitsplätze. Das Problem ist nur, dass auch bei einer wachsenden Wirtschaft immer mehr Arbeit von Maschinen und Computern übernommen wird. Die Beschäftigten sind besser ausgebildet, sodass die Unternehmen effizienter produzieren können. In Deutschland muss sich die Wirtschaftsleistung pro Jahr um mindestens ein Prozent steigern, damit keine Jobs verloren gehen. Erst ab einer Wachstumsrate von etwa zwei Prozent kämen neue Arbeitsplätze hinzu. Aber das ist weit mehr, als das Land in den vergangenen 20 Jahren im Schnitt erreichen konnte - und viel zu viel, um den Klimawandel aufzuhalten. Zumindest, wenn der Wachstumsmotor so weiterarbeitet wie bisher.
Bis heute geht Wirtschaftswachstum noch immer einher mit einem ebenfalls wachsenden Verbrauch an Material und Energie. Klimaschützer fordern deshalb einen ökologischen Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweise. Dahinter verbirgt sich die Idee, Wachstum vom Umweltverbrauch quasi abzukoppeln. Es geht darum, die industrielle Fertigung durch neuartige Techniken so umzurüsten, dass trotz steigender Produktion die Naturzerstörungen nicht größer, sondern im besten Fall sogar geringer werden. Das bedeutet: erneuerbare Energiequellen statt Kohle, Öl, Erdgas oder Atomkraftwerke. Elektroantriebe statt Benzinmotoren. Energiesparende Gebäude, intelligente Stromnetze, effizientere Methoden zur Einsparung von Rohstoffen beispielsweise bei der Herstellung von Computern. Doch das Konzept hat auch seine Tücken. Wenn etwa die Entwicklung von besonders verbrauchsgünstigen Autos dazu führt, dass die Leute mehr Kleinstwagen kaufen oder sich umso häufiger hinters Steuer setzen, verpufft der Umwelteffekt.
Es gibt auch technische Grenzen der Entkoppelung. So ist bis heute in der Automobilbranche der ökologische Quantensprung nicht in Sicht. Und was nützen sparsame Pelletheizungen, Wärmepumpen oder Sonnenkollektoren, wenn die Menschen in immer größeren Wohnungen hausen? Allein in Westdeutschland hat sich die Wohnfläche pro Kopf seit 1989 fast um sieben Quadratmeter erhöht. Der Energiegewinn effizienter Heizsysteme ist damit wieder zunichte.
Kein Zweifel: Massive Investitionen in Wind-, Sonne- oder Wasserkraft und andere grüne Technologien sind notwendig, ja überlebenswichtig. Und wenn die Umweltbranche durch die Hoffnung auf neue Wachstumschancen und Marktanteile vorangetrieben wird, dann hilft das dem Klimaschutz und schafft neue Jobs. Der Boom der regenerativen Energien in Deutschland ist ein Paradebeispiel für den Erfolg einer ökologischen Industriepolitik. Aber sollen die Umwelttechnologien tatsächlich für die gesamte Wirtschaft einen neuen Wachstumsschub auslösen, so wie es viele Politiker fordern? Für die Antwort genügen zwei Zahlen: Wir müssen unseren CO2-Ausstoß in den kommenden vier Jahrzehnten um mindestens 80 Prozent verringern. Aber schon bei einer geringen Wachstumsrate von 1,5 Prozent würde sich im selben Zeitraum unser Bruttoninlandsprodukt verdoppeln. Zumindest die Klimaschützer sind sich einig, dass beides miteinander nicht vereinbar ist.
Wachstum ist zum Selbstzweck geworden
Zudem muss sich die Wachstumspolitik fragen lassen: Was ist eigentlich diese Sache genau, die da wachsen soll? Sind es die vielen Autos, die gegenwärtig auf Halde liegen, weil sie niemand kaufen will? Oder die immer neuen Handymodelle, Handtaschen, T-Shirts, Turnschuhe und Joghurtsorten – kurzlebige Billigprodukte, mit denen uns die Werbung täglich bedrängt? Schon jetzt besitzt jeder Deutsche im Schnitt 20.000 Teile, wie Zählungen ergeben haben. Von einem echten Bedarf kann also keine Rede sein. Wachstum ist zum Selbstzweck geworden. Dabei gibt es durchaus Sektoren, in denen zusätzliches Wachstum nötig wäre: Kindergärten, Bildungseinrichtungen, soziale Netzwerke, Pflege in Krankenhäusern und Altenheimen. Wenn es gelänge, die gigantischen Geldströme, die den Wachstumsmechanismus am Laufen halten, teilweise in soziale Bereiche umzuleiten, würde die Gesellschaft doppelt profitieren: durch mehr Lebensqualität und mehr Klimaschutz. Auch auf diese Weise könnten neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Wirtschaftsexperten vermuten jedoch, dass in einer Industrienation wie Deutschland mit Vollbeschäftigung kaum mehr zu rechnen ist. Ein Stillstand von Wachstum kann diese Entwicklung verschärfen. Auf der einen Seite wird es mehr Menschen ohne bezahlte Jobs geben, auf der anderen Seite gestresste Berufstätige, deren Lebensqualität sich wahrscheinlich eher durch einen Zuwachs an Zeit als an Konsum erhöht. Sozialwissenschaftler befassen sich schon lange mit Modellen für eine gerechtere Verteilung von Arbeit, für kürzere und flexiblere Beschäftigungszeiten und mehr Chancengleichheit von Frauen und Männern. Auch über die Möglichkeit eines einheitlichen Grundeinkommens wird diskutiert. Letztendlich kommen wir alle nicht darum herum, unsere Lebensentwürfe zu überdenken. Einen sicheren Job bewerten die meisten Deutschen heute noch als wichtige Quelle für Lebenszufriedenheit. Die Forschung hat aber auch gezeigt, dass Güter wie Freunde, Partnerschaft und Familie auf der Glücksskala noch höher rangieren. Und selbst wenn wir es anders wollten: Wir müssen uns begrenzen und lernen, mit mehr Freizeit und Muße sinnvoll umzugehen. Nur wenn wir auf Wachstum und ein Stück Wohlstand verzichten, haben wir die Chance, das Öko-System Erde für zukünftige Generationen zu bewahren. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie schreibt: "Die Angst vor Klimakultur darf nicht größer sein als die Angst vor dem Klimawandel."
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