Corinna Mühlhausen ist seit mehr als 20 jahren Trend- und Zukunftsforscherin. ÖKO-TEST sprach mit ihr über die Zukunft des Gesundheitsssystems und die Lehren, die Deutschland aus der Corona-Pandemie ziehen sollte.
ÖKO-TEST: Frau Mühlhausen, ist die Corona-Krise ein Vorbote von dem, was uns in Zukunft häufiger erwartet?
Corinna Mühlhausen: Epidemien mit neuartigen Krankheitserregern werden uns vermutlich in Zukunft weiter begleiten. Die wichtigsten Megatrends, die dazu beitragen, sind die Globalisierung und die Urbanisierung. Wir erleben jetzt, dass es im Krisenfall schwierig sein kann, wenn es nirgends mehr einen sicheren Ort auf der Welt gibt, an dem zum Beispiel die Produktion von medizinischen Gütern wie Atemschutzmasken oder Sauerstoffgeräten unbeschränkt weiterläuft.
Und dass es eine Herausforderung darstellt, Menschen in engen urbanen Räumen voneinander zu separieren. Auch der Ausbau der Lebenserwartung macht uns in dieser Krise erst einmal anfälliger. Denn wir haben es zum Idealbild erhoben, ein Leben lang fit, gesund und leistungsfähig zu sein.
Nun aber erleben wir, dass das Virus ohne Ausnahme zuschlägt und doch eine besondere Bedrohung für Ältere darstellt – egal wie stark deren Anti-Aging-Haltung bislang war. Vielleicht steckt darin nun auch die Chance, unser Bild des Alterns zu revidieren und zu einer Art Pro-Aging zu kommen.
Gesundheit als Schlüssel zu allem
Welche Rolle spielt das Thema Gesundheit in Zukunft?
Die wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Krise lautet: Nichts ist wichtiger als die Gesundheit. Kein Trend hat ein größeres Zukunftspotenzial, kein Wert wird sie in den nächsten Jahren verdrängen können. In dem regelmäßig vom Marktforschungsinstitut Kantar erstellten Werte-Index steht Gesundheit schon seit Jahren ganz vorne – mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 2018, als der Wert "Natur" auf Platz eins in diesem Ranking landete.
Aber: Die Erkenntnis, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit, wird durch die aktuellen Entwicklungen auf schmerzhafte Art und Weise unter Beweis gestellt. Gesundheit ist der Schlüssel zu allem – die Voraussetzung für Leistungsfähigkeit und die Partizipation am beruflichen Leben, der Teilhabe an einer aktiven Freizeit und nicht zuletzt Bedingung für das Funktionieren von Ökonomie und sozialem Zusammenhalt.
"Gesundheit nicht so planbar wie Fertigung eines Fahrzeugs"
Sie schrieben einmal, in Zeiten von Corona offenbare sich die "gefährliche Ökonomisierung von Gesundheit". Worin zeigt sich das?
In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden unserem Gesundheitssystem immer stärkere Daumenschrauben angelegt. Die Betreuung und Heilung von Patienten sollte immer effizienter und schneller vonstattengehen, sodass weniger Kosten anfallen und mehr Gewinne erzielt werden. Doch Gesundheit ist eben nicht so planbar wie die Fertigung eines Fahrzeugs. Fallpauschalen können eine Richtung vorgeben, doch wir sollten aufhören, sie als alleinigen Maßstab zur Finanzierung des Systems heranzuziehen.
Wenn in einem Landkreis für 100.000 Menschen nur 22 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, signalisiert dieses Missverhältnis ein System, das von einer leistungszentrierten und gesunden Bevölkerung ausgeht, nicht aber eines, das mit Pandemien und einer alternden Gesellschaft wirklich angemessen umgehen kann.
Schnell wurde in der Krise klar, dass es angesichts der exponentiell steigenden Patientenzahlen an den Basics mangelt: Die Hersteller von Antivirusprodukten, Desinfektionsdienstleistungen sowie Schutzmasken waren die Ersten, die mit der gestiegenen Nachfrage nicht Schritt halten konnten.
In einer Welt mit vollständig globalisierten Märkten wird kein Land auf der Welt umhinkommen, sich seine ganz eigene Gesundheitsversorgung aufzubauen und damit zumindest ansatzweise seine lokale Unabhängigkeit zu bewahren.
Gewisses Maß an Überkapazitäten bereithalten
Was muss sich künftig am Gesundheitssystem in Deutschland ändern?
Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das in schlechten Zeiten die Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen bestens ermöglichen kann. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Spielräume schaffen: indem wir versuchen, Strukturen aufzubauen, die kostensenkend wirken, ohne das Maß aus den Augen zu verlieren.
Nicht alles, was mit der Bekämpfung von Krankheiten und der Betreuung von Patienten zu tun hat, lässt sich planen – genauso wenig wie der Ausbruch einer solchen Pandemie. Ein so reiches Land wie Deutschland muss es sich erlauben können, in guten Zeiten ein System aufzubauen, das ein gewisses Maß an Überkapazitäten bereithält – in Bezug auf Material und Technik, vor allem aber im Hinblick auf die Menschen, die in diesem System arbeiten
Lassen sich aus der Corona-Krise aus Ihrer Sicht auch positive Lehren ziehen?
Unsere Hoffnung ist es, dass unser Land, wie es derzeit so oft heißt, am Ende der Krise ein anderes sein wird – und zwar ein besseres. Dass trotz allen Leids und den schweren Zeiten für Patienten und Angehörige, Pflegende und Mediziner sowie allen anderen systemrelevant Tätigen – vom Katastrophenschutz bis zum Supermarkt-Mitarbeiter – am Ende etwas steht, das Trost spendet: ein Land mit einer progressiveren Arbeits- und Lernkultur etwa, das es den Menschen leichter macht, sich selbst zu verwirklichen und zugleich für andere da zu sein. Sowie ein System, das nicht nur nach den Vorgaben der Ökonomie organisiert ist, sondern eine neue Einheit aus Mensch, Natur und Kultur ermöglicht.
Die Hoffnung ist, dass diese Krise uns als Gesellschaft zusammenschweißt, dass das Gesundheitssystem zum Wohle aller reformiert wird und wir vor einer globalen Neuordnung stehen, in der neben der Ökonomie auch Platz für tiefgreifende ökologische Weichenstellungen bleibt. Damit auch dem großen Patienten Erde in den nächsten Jahren deutlich und nachhaltig im Sinne der nachfolgenden Generationen geholfen werden kann.
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