Wie machen die das nur?", fragt sich mancher Kunde, wenn er Eier für 13 Cent das Stück, Bananen für 99 Cent das Kilo oder Putenfilets für knappe 2,50 Euro die 400-Gramm-Packung in den Einkaufswagen legt. Wer kann das so günstig produzieren, transportieren, verkaufen? Schließlich müssen ja alle Glieder in der Lebensmittelkette ihre Unkosten finanzieren und von ihrer Arbeit auch noch leben können: der Landwirt, der Verarbeiter, der Lebensmittelhersteller und der Handel.
Die entscheidende Rolle dabei kommt dem Handel zu. Discounter beschränken sich auf das Notwendigste. "Wir sparen bei allem, was Ware üblicherweise nur verteuert", heißt es bei Aldi. "Unsere Läden sind nicht zu groß. Unser Sortiment ist nicht zu breit, die Warenpräsentation nicht aufwendig. Unsere Logistik ist äußerst rationell." Das kann jeder bestätigen, der schon mal in einem Discounter war: Die Einrichtung ist meist weniger schmuck als in einem Supermarkt, der in der Regel auch eine Fleisch-, Käse- und Salattheke zu bieten hat. Die Waren werden in schlichten Regalen präsentiert, man stolpert nicht über Sondertische, Extratresen und Körbe mit Supersonderangeboten. Probierecken mit Wein, Salaten oder Knabbereien gibt es schon gar nicht.
Gespart wird zugleich bei der Werbung. Während die Lebensmittelindustrie allabendlich ihre Produkte im Fernsehen anpreist, in Hochglanzmagazinen wirbt und auch riesige Plakatwände mit ansprechenden Fotos von Speisen beklebt, verhält sich der Handel eher bescheiden. Discounter werben in Tageszeitungen für ihre Wochenangebote, sie legen in den Filialen Handzettel aus und zeigen die Sonderangebote der Woche auf den Websites im Internet. Mit teuren Fernsehspots wird nur selten geworben.
Straffe und damit sparsame Strukturen kennzeichnen die Logistik, die den Einkauf, den Transport und die Verteilung der Waren umfasst. Gespart werden kann, indem die Anzahl der Lieferanten so gering wie möglich gehalten wird. Wenn das Brot nur von ein oder zwei Großbäckereien in die Discountverteilzentren angeliefert wird, verringern sich die Transportwege und somit die Kosten. Alle Abläufe in den Läden sind auf ihre Effektivität hin optimiert. Zeit ist Geld - und die Mitarbeiter sind vor allem eines: Kostenfaktoren. Kein Wunder also, dass die Arbeitsbedingungen bei den Discountern seit Jahren immer wieder für die gleichen negativen Schlagzeilen sorgen. Unbezahlte Überstunden, Schikanen, Mobbing, Überwachung und ständiger Druck sind die seit Langem kritisierten Probleme.
Unbezahlte Überstunden und Mehrarbeit bei Netto
"Meine offizielle Arbeitszeit als Kassiererin beginnt um 7 Uhr morgens, gleichzeitig mit der Ladenöffnung, jedoch soll/muss man schon mindestens um 6 Uhr in der Filiale sein, um Obst und Gemüse mit einzuräumen." Die Netto-Verkäuferin mit dem Pseudonym Blondie schildert ihren Tagesablauf in der völlig unterbesetzten Filiale, berichtet von unterbrochenen Pausen, von Paletten, die sie nach Schichtende noch einräumen muss. Ihr Fazit: "An einem einzigen Tag mindestens 2,5 Stunden für "gratis" gearbeitet. In der Stundenliste werden mir 6 Stunden eingetragen, tatsächlich müssten dort 8,5 stehen. Netto erwartet das nicht, sondern die leben davon. Das ist oberste Firmenphilosophie!" Blondie hat das im November 2010 geschrieben. Es war einer von über 5.000 Onlinekommentaren, die bei der Wirtschaftswoche eingingen, nachdem diese über die Arbeitsbedingungen beim Markendiscounter Netto berichtet hatte. In den zahlreichen Mails der Betroffenen ist von unbezahlten Doppelschichten die Rede, von verweigerten Arbeitspausen, schikanierten Mitarbeitern und von "gottgleichem" Auftreten der für mehrere Filialen zuständigen Verkaufsleiter.
Die Klagen über die Arbeitsbedingungen bei Netto sind nicht neu. An der Personalkostenschraube zu drehen und den "ohnehin hohen Anteil von Aushilfen" zu erhöhen, seien zwei der langjährigen Lieblingsrezepte von Netto gewesen, schreibt das Branchenblatt Lebensmittelzeitung. Doch seit 2009 haben die Beschwerden massiv zugenommen. Netto hatte mit seinen damals 1.400 Filialen zusätzlich 2.300 Filialen des früheren Mitbewerbers Plus übernommen. Der hatte seine Mitarbeiter deutlich besser bezahlt. Deshalb war es - glaubt man den vielen Berichten Betroffener - gezielte Unternehmenspolitik, die teuren Altverträge loszuwerden. Parallel zur Integration der Plus-Märkte in das Netto-Konzept expandierte der Konzern auch noch stark. Das Ergebnis war eine hohe Fluktuation bei den Mitarbeitern und ein dadurch verschärfter Personalmangel. Doch mehr Leute kosten mehr Geld. Netto hat nach Angaben der Lebensmittelzeitung bereits jetzt von allen Discountern mit 8,5 Prozent den höchsten Personalkostenanteil am Filialumsatz.
Sittenwidrige Löhne
Seit Mai 2010 ist Netto tarifgebunden, doch wirft die Gewerkschaft Verdi dem Unternehmen zahlreiche Verstöße gegen den Tarifvertrag vor. "Von den 72.000 Netto-Beschäftigten in Deutschland sind etwa 30.000 geringfügig Beschäftigte. Bis auf ganz wenige davon in Ballungsräumen wie München, Frankfurt oder Düsseldorf erhalten diese geringfügig Beschäftigten bei Netto Stundenlöhne von 5,50 Euro", schrieb Verdi im März 2011 an die Beschäftigten des Discounters. Dies sei nicht nur tarif-, sondern sogar sittenwidrig. Der Discounter teilte daraufhin mit, er werde ab 1. April 2011 allen Aushilfen zumindest einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro plus tariflicher Leistungen zahlen. "Alle Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten von Netto Marken-Discount werden nach oder über Tarif entlohnt", heißt es zudem in der Netto-Mitteilung.
Nach Ansicht von Verdi ist dies nur die halbe Wahrheit. Denn die Vorgaben für Arbeitsstunden und Mindestbesetzung der Filialen würden zu meist unbezahlter Mehrarbeit, insbesondere bei den Filialleitern führen. Die Wirtschaftswoche zitierte aus einer internen E-Mail der Netto-Rechtsabteilung an Filialleiter, die nach den tariflichen Leistungen für ihre Aushilfen gefragt hatten. "Wir werden nicht von uns aus und automatisch die Leistungen gewähren (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, tariflichen Urlaubsanspruch). Wenn der Mitarbeiter diese aber geltend macht, kommen wir um eine Gewährung nicht umhin." Anders ausgedrückt: Freiwillig gibt Netto nichts her.
Wahlen zum Betriebsrat massiv beeinflusst?
"Netto muss noch lernen, dass Tarifverträge auch eingehalten werden müssen", kommentiert Marco Steegmann von der Verdi-Bundesfachgruppe Einzelhandel die Missstände bei der Nummer drei unter den deutschen Discountern. Dieser Einschätzung widerspricht Netto vehement. "Netto Marken-Discount gewährt selbstverständlich alle gültigen tariflichen Leistungen, die in den jeweiligen Tarifverträgen des Einzelhandels geregelt sind, beispielsweise zu Arbeitszeiten, Mehrstunden etc.", teilte das Unternehmen auf Anfrage von ÖKO-TEST mit. Zu den Überstunden schrieb Netto, es "werden selbstverständlich alle vereinbarten und geleisteten Mehr- und Überstunden in Übereinstimmung mit den Betriebsvereinbarungen sowie den von Netto angewandten Tarifverträgen vergütet oder mit Freizeit ausgeglichen." Die Stundenvorgaben würden fortlaufend überprüft und in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Marktleitung bei Bedarf angepasst.
Zwar gibt es bei dem Discounter flächendeckend Betriebsräte. Doch haben zwei Arbeitsgerichte in erster Instanz einen Teil der Wahlen für unwirksam erklärt, weil schwer gegen die Wahlvorschriften verstoßen worden sei. Unter anderem hätten laut Verdi Marktleiter als Wahlhelfer die Wahl in den Filialen massiv beeinflusst. Die beiden Verfahren waren Ende Mai 2011 noch nicht endgültig entschieden. Jüngster Ärger: Ende April 2011 wurde bekannt, dass die Netto-Zentrale monatelang die geschäftlichen E-Mails ihrer Verkaufsleiter gesammelt und ausgewertet hatte. Nach Angaben des Unternehmens unter "Einhaltung der gesetzlichen und datenschutzrechtlichen Vorgaben" und mit Wissen der Vertriebsleiter. Ziel sei es gewesen, die interne Mailflut zu reduzieren. Inzwischen hat der Discounter einen Rechtsanwalt als unabhängigen Ombudsmann ernannt. Er stehe allen Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern als neutraler Ansprechpartner bei Verdacht auf etwaige Verstöße gegen geltendes Recht oder Unternehmensrichtlinien zur Verfügung und sei zur Verschwiegenheit verpflichtet, schreibt das Unternehmen.
Der Discounter Netto ist nur das jüngste Beispiel für menschenfeindliche Arbeitsbedingungen in dieser Branche, doch beileibe nicht das einzige. Der Discounter Lidl sorgte 2008 mit einer Spitzelaffäre für Aufsehen: "Samstag, 10.46 Uhr. Frau N. ist an beiden Unterarmen tätowiert, diese sehen jedoch mehr nach Marke ,Eigenbau' aus, für, insbesondere ältere Kunden, könnten diese auch als Gefängnistätowierungen gedeutet werden. Man sollte Frau N. anweisen, die Unterarme während der Arbeitszeit, insbesondere an der Kasse, bedeckt zu halten." So lautet eine der zahlreichen (sprachlich nicht besonders gut formulierten) Protokollaufzeichnungen, die eine Detektei im Auftrag von Lidl angefertigt hat und die vom Magazin Stern 2008 veröffentlicht wurde. Lidl hatte nicht nur rund 500 Lidl-Filialen überwachen, sondern auch seine Mitarbeiter bespitzeln lassen.
Dass Filialen per Video mit sogenannten Kundenkameras überwacht werden, um Ladendiebe zu überführen, sei normal, sagt Marco Steegmann von Verdi. Das machen viele Supermärkte, Drogerien und Discounter. Das Schild "Dieses Geschäft wird videoüberwacht" weist darauf hin. Allerdings legt das weitere Vorgehen, das in Protokollen dokumentiert wurde, nahe, dass Lidl auch anderes im Sinn hatte. Den Mitarbeitern wurde zwar mitgeteilt, dass Detektive den Laden überprüfen und dass Minikameras installiert würden. Die Privatschnüffler checkten jedoch auch, wer wie lange Pause macht, protokollierten Gespräche zwischen Mitarbeitern, befragten die Crew zu ihren Kollegen und auch zu ihrem Privatleben. "Frau ... fragt Frau ..., ob es für sie nicht (auch) interessant sei, als Vertretungskraft zu arbeiten, immerhin würde sie dann zwei Euro mehr die Stunde bekommen. Frau ... winkt lächelnd (sic!) ab; Zitat: ,Den Stress möchte ich mir nicht antun; außerdem verdient mein Mann schon genug', protokollierte der Detektiv.
Der Veröffentlichung vorausgegangen war das "Schwarz-Buch Lidl" der Gewerkschaft Verdi. Es erschien 2004 und berichtete über die Arbeitsbedingungen bei Deutschlands zweitgrößtem Discounter. Schon damals wurde bekannt, dass Lidl verdeckte Videoüberwachung gegen Beschäftigte einsetzte. Das brachte der Firma den Negativpreis "Big Brother Award" ein. Doch Lidl ist nur die Spitze des Eisbergs. Bekannt wurde nach der Lidl-Veröffentlichung, dass auch bei Plus und Edeka Mitarbeiter beobachtet wurden, wenn auch in geringerem Umfang. Bei der Drogeriekette dm habe man ebenfalls Kontrollen gemacht, sagt Marco Steegmann von Verdi.
Aldi als Arbeitgeber kommt in der Öffentlichkeit meist besser weg. In einer Imagestudie des Kölner Unternehmens Grass Roots bewerteten 82 Prozent der Befragten Aldis "Ruf und Image" als gut bis ausgezeichnet. Damit lag der Discounter weit vor allen Mitbewerbern und verwies auch die Vollsortimenter auf die Plätze. Bei der Freundlichkeit der Mitarbeiter lag Aldi auf Platz drei und bei der Einschätzung als Arbeitgeber auf Platz vier, jeweils weit vor den anderen Discountern. 43 Prozent der Befragten schätzten Aldi als guten bis ausgezeichneten Arbeitgeber ein.
Heidi S. dürfte das anders sehen. Die stellvertretende Leiterin einer Aldi-Filiale in Remscheid hatte an einem Sonnabend nach Feierabend ein Paket Binden aus dem Regal genommen, konnte den Preis von 59 Cent aber nicht mehr in die Kasse eingeben, da diese schon abgerechnet war. Um ihre Schulden zu begleichen, legte sie das Geld auf den Tisch im Aufenthaltsraum und bat eine Kollegin, den Betrag gleich am Montag nachträglich in die Kasse einzugeben. Am Montag, als die Filiale von einer Aldi-Bezirksleiterin kontrolliert wurde, lag das Geld immer noch auf dem Tisch. Die Bezirksleiterin ermahnte Heidi S., das Geld unverzüglich wegzunehmen. Diese steckte es ein und vergaß später, die Binden zu bezahlen. "Für Aldi ein klarer Fall von Diebstahl, die fristlose Kündigung folgte kurze Zeit später", berichtete die Gewerkschaft Verdi in ihrer Mitgliederzeitschrift. Das sah das Arbeitsgericht Wuppertal anders. Es blieben Zweifel, ob Heidi S. ihren Arbeitgeber bewusst habe schädigen wollen, erklärte die Richterin in der Urteilsbegründung Ende März 2009. Das Gericht entschied, dass die Aldi-Mitarbeiterin ihren Job behalten darf. Aldi ging daraufhin in Berufung und kündigte der Frau erneut, diesmal wegen des Verdachts auf Diebstahl. Zu Unrecht. Nach Angaben von Verdi Nordrhein-Westfalen hat Heidi S. die gerichtliche Auseinandersetzung gewonnen und ist weiter bei Aldi beschäftigt.
Discounter-Mitarbeiter unter Druck
Im März 2010 berichtete das Fernsehmagazin Monitor über unbezahlte Überstunden von Kassiererinnen bei Aldi Nord und präsentierte eine Richtwerttabelle für die Aldi-Filialen. Darin durften einem Umsatz von 10.000 Euro am Tag 17 Arbeitsstunden gegenüberstehen. 15.000 Euro Umsatz mussten mit 22 Arbeitsstunden geschafft werden und 25.000 mit 30 Stunden. Ein Branchenexperte bezeichnet die Zahlen als völlig unrealistisch. Monitor legte auch Briefe vor, in denen Aldi Nord Filialleiter abmahnte, die diese Sollzahlen nicht erreicht hatten. Gegenüber dem Magazin bestätigte Aldi Nord die Richtzahlen, wies aber die Kritik an den Werten zurück und bestand darauf, dass alle Überstunden bezahlt würden.
Betriebsräte, die dies überprüfen könnten, gibt es zwar bei Aldi Nord. Aber auch Zweifel, ob diese unabhängig sind. Denn der Konzern hat versucht, Betriebsratswahlen zu steuern. Bis 2008 unterstützte Aldi Nord heimlich mit insgesamt 350.000 Euro die arbeitgeberfreundliche Betriebsräte-Organisation AUB. Bestechung nannte das die Gewerkschaft Verdi und klagte. Die Staatsanwaltschaft Essen ermittelte wegen Verstößen gegen das Betriebsverfassungsgesetz, stellte das Verfahren gegen den Chef des Handelskonzerns, Hartmuth Wiesemann, jedoch gegen eine Geldauflage von 50.000 Euro ein.
Auch von Norma und Penny gibt es vergleichbare Berichte über unbezahlte Überstunden und andere schlechte Arbeitsbedingungen. Nur liegen die beiden Unternehmen wegen ihrer geringeren Marktbedeutung selten im Blickwinkel der Medien.
Die Marktmacht diktiert die Preise
Die Arbeitsbedingungen in den Geschäften sind nur ein Teil des Problems. Noch größere Auswirkungen hat die geballte Macht, mit der die Handelskonzerne ihre Preisbedingungen diktieren und damit den Preisdruck in der Lebensmittelskette nach unten weitergeben. Diesen Druck üben nicht nur die Discounter aus, sondern auch die Handelskonzerne Edeka und Rewe. Sie verfügen neben ihren eigenen Discountern Netto und Penny noch über Tausende von Supermärkten. Als Abnehmer für die Lebensmittelwirtschaft sind sie deshalb mengenmäßig noch bedeutsamer als die Discounter. Zusammen kommen die vier größten Lebensmittelhändler Edeka, Rewe, Schwarz (Lidl, Kaufland) und Aldi auf einen Lebensmittelumsatz von 111 Milliarden Euro allein in Deutschland. Das entspricht nach Angaben des Bundeskartellamtes "rund 85 Prozent des Absatzmarktes insgesamt in Deutschland". Der Präsident des Kartellamtes, Andreas Mundt, kündigte im Februar 2011 eine Untersuchung durch seine Behörde an: "Wir wollen mehr Licht in die Machtverhältnisse im Handel und im Verhältnis zwischen Handel und Hersteller bringen."
Dabei wird sich das Kartellamt auch mit den vielfältigen Praktiken befassen, mit denen der Handel an den Preisen der Zulieferer dreht. Die Zulieferer, das sind die Verarbeiter und Hersteller von Lebensmitteln, also Bahlsen, Nestlé, Maggi, Dr. Oetker und viele andere mehr, die eigene Markenprodukte und auch die Handelsmarken der Discounter herstellen. Dabei gilt: Je größer der Händler ist, umso größer ist seine Verhandlungsmacht und umso größer sind die Prozente, die er beim Lieferanten einstreichen kann.
Besonders deutlich traten die Praktiken 2008 und 2009 zutage, als sich die Handelsriesen einen erbitterten Preiskrieg lieferten. Die für Edeka, den größten Lebensmittelanbieter Deutschlands, tätigen Lieferanten erhielten im Herbst 2008 Post. Darin wurde klargestellt, dass es bis 2009 keine Preiserhöhungen gebe. Der Handelskonzern Rewe forderte von seinen Zulieferern sogar Konditionsverbesserungen zwischen drei und neun Prozent. Firmen, die sich dagegen wehrten, hatten das Nachsehen. Bahlsen zum Beispiel. Die Keksfirma aus Hannover forderte eine Preiserhöhung für ihre Produkte. Die Firma hielt dies für gerechtfertigt, da sie die Qualität der Produkte verbessert und auch mit den steigenden Rohstoff- und Energiepreisen zu kämpfen hatte. Doch davon wollte der Handel nichts wissen. Bahlsen stellte daraufhin die Belieferung von Kaufland, Rewe und Tengelmann ein. Doch die Frage sei, so ein Wettbewerber, wie lange die Hannoveraner die ungleiche Kraftprobe mit den Handelsriesen durchhielten.
Erfinderische Rabattforderungen
Was der Handel für die Produkte zahlen will, die er abzunehmen plant, wird in den sogenannten Jahresgesprächen geklärt. Bei diesen Treffen sprechen die Lieferanten bei den Handelsgiganten in deren Zentrale vor und lassen sich den Preis in den Block diktieren. Immer gilt: Je größer die abgenommene Menge ist, desto weniger legt der Händler dafür - umgerechnet auf den Stückpreis - auf den Tisch. "Der Listenpreis des Herstellers wird vom Handel nie bezahlt", weiß Wolfgang Adlwarth von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Vielmehr jongliere der Handel mit verschiedenen Rabatten. "Da ist man sehr erfinderisch." Die Einkäufer fordern Frühbucherrabatte, wenn frühzeitig geordert wird, Mengenrabatte, wenn Artikel in mehr als den üblichen Stückzahlen eingekauft werden und Jubiläumsrabatte, wenn eine Filiale Einjähriges hat oder auch ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Verlangt werden vom Lieferanten überdies Zuschüsse, wenn neue Filialen eröffnet werden und Zahlungen für Werbemaßnahmen.
Manchmal wünschen die Handelsmanager sogar einen Rabatt auf den Rabatt. Ende April 2009 durchsuchte das Bundeskartellamt die Hamburger Edeka-Zentrale. Der größte deutsche Lebensmitteleinzelhändler stehe im Verdacht, seine Nachfragemacht gegenüber Lieferanten ausgenutzt zu haben, so die Wettbewerbsbehörde. Edeka soll nach der Fusion der eigenen Discounttochter Netto mit den Plus-Filialen nachträglich Rabatte von den Lieferanten gefordert haben. Dies sei "ohne sachlich gerechtfertigten Grund" geschehen, was gegen das Kartellrecht verstoße, so der Vorwurf der Behörde.
Auch die Kette Rewe, die ebenfalls einen (kleineren) Teil der Plus-Filialen übernahm, soll bessere Konditionen gefordert haben, berichtete die Lebensmittelzeitung. "Wir wollen nicht benachteiligt, sondern bevorteilt werden", stellte Rewe gegenüber seinen Lieferanten klar. Rewe soll von den Handelsmarkenlieferanten einen "Expansions-Bonus" verlangt haben. Der Konzern begründet dies damit, dass die Hersteller mit der Integration der Plus-Märkte ins Penny-Netz höhere Umsätze erzielen.
Einstieg nur mit Listungsgeld
Überhaupt mit ihren Produkten in die Regale der Discounter zu kommen, ist für die Hersteller nicht einfach. Schließlich ist jeder Regalmeter hart umkämpft. Zwischen 800 und 2.500 Produkte sind in einem Discounter zu haben. Doch das Lebensmittelsortiment ist viel größer - und fast monatlich kommen neue Produkte auf den Markt. Die Konkurrenz ist also riesig. Wer rein will ins Regal, muss sich erkenntlich zeigen. Darum zahlen viele Zulieferer erst einmal eine sogenannte Listungsgebühr, um die Gnade der Handelsriesen zu finden. Und das ist stattlich: zwischen fünf und zehn Prozent des möglichen Umsatzes mit dem Produkt. Listungsgebühren sind allerdings nicht nur bei Discountern üblich.
"Die Hersteller stehen bei den Discountern Schlange, um gelistet zu werden. Sie kommen um diesen Vertriebsweg nicht herum", sagt Wolfgang Adlwarth von der GfK auf die Frage, warum sich die Hersteller so viel bieten lassen. Mit jedem neuen Discounter öffne sich schließlich ein neuer Absatzkanal. Lange schienen die Lieferanten trotz Rabatten, Listungsgeldern und ähnlichem irgendwie auf ihre Kosten zu kommen. Doch allmählich spitzt sich die Situation zu: Der Umsatz der deutschen Ernährungsindustrie betrug 2010 knapp 150 Milliarden Euro. Inflationsbereinigt sei er um 0,2 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig seien die Agrarrohstoffpreise wieder nach oben geschossen, beklagte die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Sie spricht von einer schwachen Ertragslage ihrer Mitglieder. "Die Preisschlachten der letzten Jahre haben viele Hersteller bereits in eine prekäre Lage gebracht; die Unternehmen haben keinen Ertragspuffer mehr, der die Belastungen auffangen könnte." Und so wird der Preisdruck weitergegeben an den Anfang der Lebensmittelkette, an die Erzeuger im In- und Ausland. Sie sollen die Rohstoffe möglichst billig liefern.
Milchpreis zwingt Landwirte zum Aufgeben
Die Proteste der Milchbauern, die vor zwei Jahren ihre Milch auf den Feldern auskippten, waren ein Zeichen dafür, dass auch Lebensmittel ihren Preis haben müssen. Damals war der Milchpreis auf einen Tiefststand von 23 Cent je Liter gesunken. Inzwischen erhalten die Milchbauern im Schnitt rund 32 Cent je Liter. Doch nach Angaben des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter (BDM) wäre bei einer durchschnittlichen Herdengröße von 40 Kühen ein Milchpreis von 45 Cent notwendig, damit die Betriebe nachhaltig wirtschaften können. Zahlreiche Höfe leben seit Jahren von der Substanz. Allein von Mai 2009 bis Mai 2010 haben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fast 4.000 Bauernhöfe die Milchviehhaltung aufgegeben.
Berechnungen des bayerischen Bauernverbandes zeigen: Vom Preis, den die Verbraucher im Schnitt für ein Kilo Mischbrot bezahlen (3,75 Euro), erhält der Landwirt gerade mal 13,5 Cent für das Getreide. Von einem Brötchen, das im Laden 35 Cent kostet, fallen für ihn gerade mal 0,6 Cent ab. Für zwei Kilo Kartoffeln, die es bei Penny für 1,29 Euro gibt, erhält der Bauer rund 20 Cent, und vom Preis für einen halben Liter Bier von rund 60 Cent bekommt er 2,5 für die Braugerste und 0,5 Cent für den Hopfen.
Doch Einnahmen sind nicht gleich Gewinn. Schließlich hat der Bauer noch Kosten. Die Arbeitsgemeinschaft für Landberatung in Hannover rechnet Bauern, die auf Hähnchenmast umstellen wollen, Folgendes vor: Pro fertig gemästetes Hähnchen mit 1.900 Gramm Lebendgewicht bekommt der Landwirt 1,58 Euro. Davon muss man die Kosten für das Futter, den Ankauf der Küken, den Tierarzt sowie den Wasser- und Stromverbrauch abziehen. Verbleiben unter dem Strich 27 Cent pro Tier. Davon müssen noch die Zinsen für den Stallneubau und dessen Abschreibung abgezogen werden. Bleiben 9 Cent pro Tier als Lohn für die Arbeit übrig.
Agrarfabrik statt Bauern
Damit sich das überhaupt rentiert, empfehlen die Berater bei diesen Preisen einen Stall, in dem 40.000 Hähnchen Platz haben. Pro Jahr muss so ein Landwirt 300.000 Masthähnchen produzieren. Anders gesagt: Landwirtschaft rechnet sich nur noch, wenn sie in möglichst großen Einheiten betrieben wird. "Agrarfabriken mit Größenordnungen von rund 90.000 Schweinen, 800.000 Legehennen und 500.0000 Masthähnchen befinden sich in Genehmigungsverfahren oder bereits in Betrieb", warnt das Bündnis "Bauernhöfe statt Agrarfabriken". Die zunehmende Industrialisierung zerstöre bäuerliche Arbeitsplätze, führe zu überdüngten Wiesen, zunehmenden Futtermittelimporten und sei für die Tiere eine Quälerei. Marita Wiggerthale von der Entwicklungsorganisation Oxfam fasste die Zusammenhänge bei einer Anhörung im Bundestag im Sommer 2010 so zusammen: "Das Prinzip ‚billig!' beinhaltet und befördert eine ‚Fast Food-Landwirtschaft', die auf Kosten der Lebensmittelqualität geht und immer mehr bäuerliche Erzeugerbetriebe aus der Produktion drängt. Weitere Fehlentwicklungen sind die unzureichende Durchsetzung fairer Arbeitsbedingungen, angemessener ökologischer Standards und ausreichenden Tierschutzes."
Ausgebeutete Arbeiter auf Plantagen
Welche Folgen der Preisdruck der großen Handelskonzerne auf Bauern und Plantagenarbeiter in Entwicklungsländern hat, zeigt die Studie Endstation Ladentheke. Darin beschreibt Oxfam, unter welchen Bedingungen Ananas in Costa Rica und Bananen in Ecuador angebaut werden. In Deutschland kommt jede zweite Ananas aus Costa Rica und jede dritte Banane aus Ecuador. Entsprechend groß ist der Einfluss der deutschen Abnehmer dort. In Costa Rica schuften die Arbeiter laut Oxfam meist zwölf Stunden und mehr auf den Feldern, wo sie ohne ausreichende Schutzkleidung den Pestiziden ausgesetzt sind. Festanstellungen gibt es auf den Plantagen in der Regel nicht. 60 Prozent der in Costa Rica in der Ananasproduktion (offiziell) 20.000 Beschäftigten bekommen laut Oxfam nur für zwei bis drei Monate Arbeit. Dadurch könnten Sozialabgaben umgangen, die Löhne gedrückt und der Bildung von Gewerkschaften von Anfang an ein Riegel vorgeschoben werden. Bestenfalls verdienen die Arbeiter den gesetzlichen Mindestlohn von neun Euro pro Tag. Die Summe wird für einen Acht-Stunden-Arbeitstag gezahlt. Doch die Menschen schaffen in Stoßzeiten etwa zwölf Stunden täglich. Und der Mindestlohn reicht längst nicht, um die Existenz zu sichern, sagen die Experten von Oxfam.
In Ecuador ist die Situation noch verheerender, hier verdienten nur wenige Arbeiter überhaupt den staatlichen Mindestlohn, schreibt Oxfam. Je größer der Betrieb, desto schlechter seien die Löhne. "Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation zufolge arbeiten sogar 30.000 Kinder auf den Bananenplantagen Ecuadors."
Preiswerte Klamotten bei Aldi, Lidl und Co.
Mädchen-Jeansröcke für 7 Euro, Freizeit-Zipp-Hosen für 10 Euro - solch sensationell niedrige Preise gibt es nicht ohne Folgen. Das ökumenische Institut Südwind hat mehrfach die Situation von Aldi-Zulieferern in China und Indonesien dargestellt, sowohl für Textilien als auch für Elektroartikel und andere Aktionsware. Bekannt sind auch die Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Sri Lanka, Indien, Bangladesch und Thailand, deren Fabriken für Aldi, Lidl, Carrefour und WalMart arbeiten: Hungerlöhne, bis zu 80 Stunden Arbeit in der Woche, keine soziale Absicherung, keine Gewerkschaftsfreiheit. Die christliche Initiative Romero prangerte im Herbst 2010 die Missstände in einer Persiflage auf ein Aktionsprospekt von Aldi Nord an. Neben den Billig-T-Shirts standen dort Texte wie "Hergestellt in Bangladesch für 33 Euro Monatslohn bei 80 Stunden Arbeit pro Woche". Aldi Nord drohte mit juristischen Schritten, ruderte dann aber zurück.
Keine Chance vor Gericht hatte Mitbewerber Lidl. Der Discounter hatte im Frühjahr 2010 auf seinen Aktionsflugblättern behauptet: "Wir handeln fair!" und erklärend hinzugefügt: "Lidl setzt sich weltweit für faire Arbeitsbedingungen ein. Wir bei Lidl vergeben deshalb unsere Non-Food-Aufträge nur an ausgewählte Lieferanten und Produzenten, die bereit sind und nachweisen können, soziale Verantwortung aktiv zu übernehmen." Die Verbraucherzentrale Hamburg hatte deshalb Lidl wegen unlauteren Wettbewerbs angeklagt und dabei auf die von der Kampagne für Saubere Kleidung und anderen Initiativen belegten Verstöße von Lidl-Lieferanten verwiesen. Lidl verpflichtete sich, das beanstandete Werbeversprechen zurückzuziehen.
Um solches Greenwashing zu verhindern, fordern zahlreiche Organisationen, dass Konzerne über die Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern Auskunft geben und dafür geradestehen müssen. Ziel ist es, dass die Unternehmen verpflichtende Sozialnormen für ihre Lieferanten einhalten müssen und Verstöße dagegen in Deutschland angeklagt werden können.
Interview: Was an Leistung erwartet wird, ist enorm
Manfred Birkhahn war 21 Jahre lang Verkäufer bei Aldi und im Betriebsrat von Aldi in Berlin, zuletzt als dessen Vorsitzender. Heute ist er im Ruhestand. Derzeit recherchiert er zusammen mit Andreas Hamann und weiteren Autoren für ein "Schwarzbuch Aldi". Der Erscheinungstermin ist noch offen.
ÖKO-TEST: Es heißt, Aldi zahle Löhne und Gehälter, von denen andere Beschäftigte bei Discountern nur träumen können. Ist das so?
Birkhahn: Ja. Aldi zahlt Tarif und bietet einiges an Zusatzleistungen, etwa vermögenswirksame Leistungen, Fahrgeld, die Differenzzahlung zum tariflichen Weihnachtsgeld und auch Verkaufsprämien. Betrachtet man die Beträge isoliert, könnte man sagen: "Donnerwetter, das ist fantastisch." Doch der Gradmesser für die Bezahlung ist die Arbeitszeit, die dem Lohn gegenübersteht. Aldi verlangt von allen Beschäftigten Vor- und Nacharbeit, das bedeutet, die Mitarbeiter müssen z.B. früher kommen und länger bleiben, um die Ware auszupacken und die Filiale in Ordnung zu bringen. Das steht auch so in den aktuellen Arbeitsverträgen bzw. Betriebsvereinbarungen. Da heißt es dann, "bis zu" so und so viele Stunden müssen bei Bedarf mehr geleistet werden. Das suggeriert, dass Mehrarbeitsstunden nicht regelmäßig anfallen bzw. geleistet werden müssen.
ÖKO-TEST: Fällt denn häufig Mehrarbeit an?
Birkhahn: Aldi-Mitarbeiter leisten meiner Meinung nach ständig Mehrarbeit. Zum Beispiel ergeben überschlägig schon zehn zusätzliche Minuten pro Tag eine Woche Mehrarbeit im Jahr. Kommen die Angestellten täglich regelmäßig eine Stunde mehr, sind das sechs Wochen im Jahr. Die Bezahlung dieser Mehrarbeit ist ein ständiger Streitpunkt.
ÖKO-TEST: Wird sie nicht bezahlt?
Birkhahn: Doch. Damit die Beschäftigten überprüfen können, ob die Bezahlung ihrer Mehrarbeit auch stimmt, müsste diese aber korrekt erfasst werden. Dies ist leider ein Schwachpunkt - fast überall gibt es damit Probleme, sodass wir hier Absicht annehmen. Wir empfehlen auch den Filialleitern - diese sind vollzeitbeschäftigt -, sich die geleisteten Stunden aufzuschreiben, damit sie selbst ausrechnen können, was von Aldis übertariflicher Bezahlung tatsächlich übrig bleibt - dann, wenn korrekt erfasst und korrekt tariflich abgerechnet wird. Denn jede Überstunde müsste mit 25 Prozent Zuschlag bezahlt werden. Und hier in Berlin muss ab der 18. Stunde Mehrarbeit im Monat sogar 40 Prozent Zuschlag gezahlt werden. Filialleiter müssen z. B. wöchentlich 7,5 Stunden zusätzlich leisten - in Berlin-West statt der tariflichen 37 Stunden also 44,5 Stunden. Doch selbst wenn Aldi etwas mehr Geld zahlt als andere, darf man nicht übersehen, unter welchen Bedingungen die Arbeit geleistet wird.
ÖKO-TEST: Wie sehen diese konkret aus?
Birkhahn: Meist sind nur zwei Mitarbeiter allein in einer Filiale (in Sachsen-Anhalt sogar zeitweise nur eine Person), meist sind es Frauen. Sie müssen die schweren Paletten durch die Gänge manövrieren, was eine echte Knochenarbeit ist, die ganze Ware allein auspacken, die Pappe entsorgen, den Laden wischen und dann auch noch kassieren. Was da an Leistung erwartet und auch gebracht wird, ist enorm. Ich habe das selbst viele Jahre gemacht und weiß, wovon ich rede. Damals gab es zudem noch mehr Personal.
ÖKO-TEST: Warum wehren sich die Mitarbeiter nicht?
Birkhahn: Viele haben Angst, den Job zu verlieren. Das ist ja durchaus nachvollziehbar. Manche sagen sich, bei anderen Discountern muss ich auch so viel arbeiten. Oder noch mehr. Ich werde dort möglicherweise aber schlechter bezahlt. Da kann ich auch bei Aldi bleiben.