Der Angriff auf die Ohren beginnt abends um halb elf. "Dann wird der Himmel aufgeschlossen", sagt Thomas Pohl. Der Mittvierziger wohnt in einer ländlichen Siedlung im Norden von Leipzig, nur drei Kilometer vom Flughafen Halle-Leipzig entfernt. Die Posttochter DHL betreibt dort ihr europäisches Frachtdrehkreuz. Vor Mitternacht landen die gelben Paketflieger, vor dem Morgengrauen heben sie wieder ab. "Beim ersten Turbinengeräusch", berichtet Pohl, "werde ich mit Herzrasen munter." Dann liegt er im Bett und wartet, bis der Wecker klingelt. In manchen Nächten schlafe er zwei Stunden, erzählt der Mann, der in Schichten arbeitet und die Nachtruhe zur Erholung dringend bräuchte. Aber ohne Ohrstöpsel und Schlaftabletten ist für ihn an Schlaf kaum zu denken - trotz eingebauter Schallschutzfenster.
Pohls Fall mag extrem sein, eine Ausnahme ist er nicht. Lärm ist in der Bundesrepublik allgegenwärtig - und ein notorisches Ärgernis. 62 Prozent der Deutschen, so ergab eine vom Umweltbundesamt (UBA) durchgeführte Befragung im Frühjahr 2011, fühlen sich von Lärm wesentlich belästigt. Vor allem Verkehrsgeräusche sind ein verbreitetes Problem: Flugzeuge starten und landen tosend, Lastwagen brettern durch Ortskerne, dicke Autos dröhnen durch Wohngebiete. Doch auch andere Geräuschquellen zerren an den Nerven: In jedem Geschäft plätschert Musik aus Lautsprechern, in der Bahn puckern Bässe aus Kopfhörern, in der Nachbarwohnung wird angestrengt Geige geübt. Dass Geräusche, wie sie beispielsweise durch dünne Wände ans Ohr dringen, oft nicht wirklich laut sind, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Lärm, sagt der Wuppertaler Lärmforscher Detlef Krahé, ist "unerwünschter Schall mit einer störenden Wirkung auf den Menschen". Entscheidend ist neben der Intensität auch, ob ein Geräusch vom Hörer als negativ wahrgenommen wird. Wissenschaftler sprechen von einem soziopsychologischen statt physikalischen Begriff. Den Schlaf kann schon der Kühlschrank stören, der mit 30 Dezibel summt.
Uralter Fluchtinstinkt
Ab einer bestimmten Intensität freilich hat Lärm in jedem Fall schädigende Auswirkungen. Ein Silvesterknaller, der in Ohrennähe explodiert, kann zum Ertauben führen; wummernde Bässe bei einem Rockkonzert ziehen die Ohren in Mitleidenschaft, auch wenn der Hörer die Musik genießt. Rund 120 Dezibel werden in Konzertarenen und Diskotheken gemessen. Bereits ab 65 Dezibel, sagt Krahé, handelt es sich um eine "Belästigung, der man sich nicht mehr entziehen kann". Vor polternden Lastwagen vor dem Wohnzimmer gibt es kein Entrinnen mehr: Am Rand von Hauptverkehrsstraßen werden leicht 80 Dezibel und mehr gemessen.
Die Empfindlichkeit, mit der wir auf Lärm reagieren, hat evolutionäre Gründe; sie hat unseren Vorfahren vor Zehntausenden Jahren das Leben gerettet. Sie schreckten empor, wenn das Ohr ungewohnte Geräusche vernahm, weil wildes Getier durchs Gebüsch raschelte. Die Ohren, sagt die Aalener Wissenschaftlerin Annet...