- Immer mehr Kinder leiden an Übergewicht und Krankheiten wie Typ-2-Diabetes.
- Das Problem: Häufig täuscht Werbung vor, dass zuckrige Produkte gesund sein könnten.
- Bisher versuchte die Politik nur mit Aufklärung, Appellen und Vereinbarungen gegenzusteuern. Jetzt soll an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit viel Zucker, Fett und Salz verboten werden.
- Wir haben 40 Kinderlebensmittel überprüft. Dabei wählten wir beispielhaft zuckerhaltige Produkte aus, die etwa mit (Comic-)Figuren besonders Kinder ansprechen.
- Für Babys und Kleinkinder sollte möglichst wenig Zucker auf dem Speiseplan stehen. Denn, sie brauchen nichts extra Gesüßtes.
Aktualisiert am 7.12.2023 | Kinder lieben Süßes – und die Industrie befeuert diese Vorliebe. Mit Lebensmitteln – bunt verpackt, cool beworben und oft mit einer Extraportion Zucker. Die Folge: Immer mehr Kinder leiden an Übergewicht.
15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gelten als übergewichtig, sechs Prozent sogar als fettleibig. "Die Häufigkeit hat in den vergangenen 40 Jahren um mehr als das Achtfache zugenommen", sagt Berthold Koletzko, Professor für Kindermedizin am Klinikum der Ludwig-Maximilian-Universität in München. "Das hat enorme Konsequenzen für die Gesundheit der Kinder."
Welche Folgen hat Übergewicht?
Übergewicht ist ein entscheidender Risikofaktor für Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem haben nach dem Zahnreport 2020 der Barmer Krankenkasse deutlich mehr Kinder in Deutschland Karies als angenommen: Über die Hälfte der Zehnjährigen in Deutschland sind betroffen. Die Folgekosten für die Krankenkassen und die Gesellschaft sind enorm.
Allein die Folgekosten für Adipositas belaufen sich in Deutschland nach Berechnungen der Krankenkasse AOK auf 63 Milliarden Euro jährlich, weitere acht Milliarden Euro jährlich verursacht die Behandlung von Karies.
Gesetz soll Werbung beschränken
Die Politik versuchte bislang nur mit Aufklärung, Appellen und Vereinbarungen gegenzusteuern. Während andere Länder längst mit Gesetzen reagieren, setzte Deutschland auf Freiwilligkeit.
Nun will Ernährungsminister Cem Özdemir an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett und Salz gesetzlich beschränken. "Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder gesünder aufwachsen können", sagte er jetzt in Berlin. Bisherige freiwillige Selbstverpflichtungen hätten beim Kinderschutz versagt.
Um Kinder zu schützen, ist Folgendes geplant:
- Werbung für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt soll von 6 bis 23 Uhr unzulässig sein, wenn sie regelmäßig auch von Kindern wahrgenommen werden kann.
- Unzulässig werden soll auch Außenwerbung auf Plakaten für solche ungesunden Produkte im Umkreis von 100 Metern um Schulen, Kitas, Spielplätze und Freizeiteinrichtungen für Kinder.
- Verboten werden soll zudem an Kinder gerichtetes Sponsoring für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt.
Auch ÖKO-TEST fordert Ende für dreiste Werbung
Kerstin Scheidecker, Chefredakteurin von ÖKO-TEST, zu den Plänen von Özdemir: "Es ist höchste Zeit, dass die Politik Kinder und Familien schützt, indem sie klare Gesetze für die Lebensmittelindustrie schafft. Appelle genügen nicht. Kinderlebensmittel mit zu viel Fett, Zucker oder Salz sollten gar nicht erst erlaubt sein – aber ein Werbeverbot ist ein großer Schritt nach vorne. Gut so!"
Gleichzeitig weist sie daraufhin, dass sich das geplante Verbot ausschließlich gegen Werbung in den Medien richtet. "Was den Plänen nach erlaubt bleibt, ist, dass die Hersteller mit ihren Tricks direkt auf den Verpackungen ungesunder Kinderlebensmittel werben dürfen – etwa mit bunten Comicbildchen und vermeintlich gesunden Wirkungen von Lebensmitteln, die in erster Linie Zucker enthalten. Auch das ist ein Problem – und darf nicht erlaubt bleiben."
Eigenverantwortung stößt schnell an Grenzen
Klar ist: Eigenverantwortung der Verbraucherinnen und Verbraucher stößt schnell an Grenzen, wenn Zucker in Lebensmitteln steckt, wo er gar nicht vermutet wird. Wenn Produkte als gesund verkauft werden, die viel zu viel Zucker enthalten. Junkfood massiv beworben wird und das Essen in Schulen und Kitas weit entfernt ist von den Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).
In der Umgebung, in der unsere Kinder groß werden, ist es nicht einfach, sich gesund zu ernähren. Sie ist, wie Experten es formulieren, "apogen" – übergewichtsfördernd. Und die Lebensmittelindustrie hat daran einen großen Anteil.
Der Körper kann Zucker aus anderen Nährstoffen herstellen
Kinder sollten höchstens zehn Prozent ihres täglichen Energiebedarfs in Form von Zucker zu sich nehmen, empfiehlt die DGE. Das entspricht, je nach Alter, etwa 25 Gramm. Noch besser, sagt die WHO, wären nur fünf Prozent. Denn eigentlich braucht unser Körper gar keinen zusätzlichen Zucker.
"Unser Körper braucht Glucose, vor allem unser Gehirn", erklärt Kinderarzt Koletzko. Der große Vorteil: Der Körper kann den Zucker aus anderen Nährstoffen herstellen. "Was unser Körper an Glucose braucht, kann es aus Mehrfachzuckern wie Stärke aufspalten." Aus Brot oder Nudeln etwa.
Verarbeitete Lebensmittel enthalten viel Zucker
Es ist nicht einfach, Zucker aus dem Weg zu gehen. "Viele haben vielleicht noch ihren Konsum an Süßigkeiten im Blick", sagt Koletzko. "Aber sie nehmen gar nicht wahr, wie viel Zucker sie in verarbeiteten Lebensmitteln zu sich nehmen." Zucker verbirgt sich in Ketchup, Salatdressing, Tomatensuppe und Pizza.
Eine Studie des Max-Planck-Instituts von 2018 zeigte, dass Eltern den Zuckergehalt in den Lebensmitteln ihrer Kinder massiv unterschätzen. Gerade bei Produkten, die als gesund gelten. So unterschätzten 92 Prozent der Eltern den Zuckergehalt von Fruchtjoghurt – und das im Schnitt um sieben Würfel. Auch bei Orangensaft lagen sie weit daneben. Denn Orangensaft enthält in etwa so viel Zucker wie eine Cola.
Produkte geben sich gesund, sind es jedoch nicht
Die Lebensmittelindustrie nutzt solche Fehleinschätzungen bewusst aus. "Viele Menschen wollen sich ja gesund ernähren. Aber wie gesund ein Produkt ist, welche Nährwerteigenschaften es hat – das sehen sie nicht auf den ersten Blick", sagt Achim Spiller, Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte an der Universität Göttingen. Dafür prominent platzierte Aussagen zum Zuckergehalt. Worauf sich eine Aussage wie "weniger Zucker" bezieht, ist vielen jedoch völlig unklar.
Und auch ein Produkt "ohne Zuckerzusatz" oder mit einer "Süße nur aus Früchten" kann einen enorm hohen Zuckergehalt haben. Dass dieser von Früchten stammt, macht ihn in keiner Weise besser. "Aber der Werbespruch gibt dem Produkt einen gesunden und natürlichen Anstrich", erklärt Spiller.
Health-Halo-Effekt nennt das der Marketingexperte – ein Heiligenschein für ein Produkt, dass sich gesund gibt, es aber gar nicht ist. "Es ist einfach sauschwer das zu durchschauen, weil in der Werbung in Deutschland so vieles ungeregelt ist."
Für die Lebensmittelindustrie ist Zucker ein idealer Inhaltsstoff. "Er verstärkt den Geschmack und konserviert, dient als Füllstoff, gibt den Produkten ihre Struktur, ist gut zu verarbeiten und dazu noch sehr preisgünstig", zählt Marketingprofessor Spiller auf. Produkte mit einer schlechten Nährstoffzusammensetzung lohnen sich also für die Industrie – und werden massiv beworben.
Wie viel Zucker steckt in Kinderlebensmitteln?
Wir haben 40 Kinderlebensmittel unter die Lupe genommen. Unser Fazit nach Auswertung der Zuckergehalte: Bei Lebensmitteln, die sich erkennbar an Kinder richten, müssen Eltern ganz besonders genau hinschauen.
Denn häufig steckt in ihnen mehr Zucker als in den vergleichbaren Produkten für Erwachsene. Und viele Hersteller bewerben die gezuckerten Produkte dann auch noch mit Vitaminzusätzen oder dem aus unserer Sicht irreführenden Aufdruck "ohne Zuckerzusatz".
Schon bei der Beikost fängt es an
Den Vogel schießen die Babynahrungsanbieter ab. Zu den als "bewusste Ernährung" beworbenen Beikostprodukten einer Marke im Test zählen zum Beispiel ein Babybrei mit Keksgeschmack zum Trinken und ab dem achten Monat ausgelobte Babykekse, beide gezuckert – wie auch der Milchbrei eines anderen Anbieters.
Produkte für Säuglinge unter einem Jahr sollten nach Expertenmeinung gar nicht gezuckert sein. Auch der Zucker in den anderen eingekauften Baby- und Kinderkeksen "ohne Zuckerzusatz" – aber mit Sirup, Saftkonzentraten und Dicksäften – ist leider nicht gesünder.
Die ebenfalls oft schon für Säuglinge ausgelobten Quetschies sind teils ähnlich zuckerhaltig wie die Kekse. Dabei sollte verarbeitetes Obst, das für Kinder beworben wird, laut der Nährwertprofile der Weltgesundheitsorganisation (WHO) höchstens zehn Gramm Zucker pro 100 Gramm enthalten. Das ist doch alles natürlicher Fruchtzucker? Ja, klar. Aber das macht ihn nicht gesünder. Zucker ist Zucker.
Frühstückscerealien: Gesamtzuckergehalt beachten
Auch bei Frühstückscerealien empfiehlt es sich, auf den Gesamtzuckergehalt zu gucken. Wir haben drei Produkte eingekauft, bei denen dieser mit 8,5 bis 13 Gramm Zucker pro 100 Gramm moderat ist.
Doch mit einem dieser Produkte hat ein dreijähriges Kind mit einer 40-Gramm-Portion schon ungefähr 85 Prozent der Menge an Zucker weggenascht, die es an einem ganzen Tag besser nicht überschreiten sollte – mit einem anderen sage und schreibe 99 Prozent.
Joghurt: Die Milch macht es nicht gesünder
Bei Joghurt denken viele Eltern: Das ist doch gesund? Ja, Joghurt kann gesund sein. Aber nicht immer – und einige der Produkte in unserem Test sind extrem zuckrig. (Weitere) Süßigkeiten sind am Tag nach so einem zuckrigen Becher eigentlich nicht mehr drin. Daran ändern beispielsweise auch beworbene "82 % Milch" nichts.
Für Kinder beworbene Joghurts, Frischkäsezubereitungen und Quarks sollten laut WHO höchstens zehn Gramm Zucker pro 100 Gramm enthalten. Das erfüllt gerade einmal die Hälfte der Joghurts im Test.
Wofür braucht es Kinderketchup?
Soßen, darunter explizit Ketchups, die sich in ihrer Aufmachung an Kinder richten, sollten laut WHO überhaupt keinen zugesetzten Zucker enthalten. Deswegen sind wir an dieser Stelle strenger als im Test Ketchup, was die Zuckergehalte der Kinderprodukte betrifft. Ketchup ist ein süßes, ungesundes Lebensmittel – die Werbung, die sich direkt an Kinder richtet, sollte die Industrie sich deswegen sparen, finden wir.
Zu guter Letzt gibt es auch ein positives Beispiel bei den Kinderlebensmitteln: Ein Produkt kommt ganz ohne süßende Zusätze wie Apfelsaftkonzentrat aus. Es geht also – wenn man will.
Diesen Test haben wir zuletzt im ÖKO-TEST Magazin 3/2023 veröffentlicht. Aktualisierung der Testergebnisse/Angaben für das Jahrbuch Kinder und Familie für 2024 sofern die Anbieter Produktänderungen mitgeteilt haben oder sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die Bewertung von Mängeln geändert oder wir neue/zusätzliche Untersuchungen durchgeführt haben.
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