- Wir haben 16 rote, matte Lippenstifte getestet, darunter sechs Naturkosmetikprodukte.
- Der Großteil der Lippenstifte fällt mit "mangelhaft" oder "ungenügend" durch den Test. Nur ein Produkt ist mit Bestnote empfehlenswert.
- Kritik gibt es unter anderem für Titandioxid, Paraffine, MOAH, Silikone und hautreizende Farbstoffe.
- Enttäuschend: Vieler Anbieter lieferten uns keine Nachweise über die Herkunft und Lieferkette des eingesetzten Mica (CI 77019).
Aktualisiert am 12.10.2023 | Jedes Mal dasselbe. Schon wieder kam die Spülmaschine nicht gegen den Lippenstiftrand an den Weingläsern an. Nachpolieren ist angesagt. Ziemlich hartnäckig, das Zeug – und das, obwohl man das Glas doch bloß ganz sanft an den Mund geführt hat.
Spinnen wir den Gedanken mal weiter: Bei jedem Bissen, jedem Häppchen, jedem achtlosen Über-den-Mund-Lecken löst sich ein Teil der Paste von unseren Lippen – und wandert mit in unseren Körper. Bis zu 57 Milligramm am Tag. Menschen, die täglich ihre Lippen schminken, essen so rund fünf Lippenstifte im Jahr.
Hoppla, gar nicht mal wenig. Finden wir auch. Daher haben wir 16 Lippenstifte eingekauft und im Labor auf Schadstoffe untersuchen lassen.
Rote Lippenstifte im Test: Wie gut sind Dior, Maybelline & Co.?
Das Ergebnis unseres Tests: Unter den 16 geprüften Lippenstiften ist nur ein Produkt "sehr gut". Zehn Lippenstifte fallen dagegen mit "ungenügend" oder "mangelhaft" durch.
Doch warum schneiden die Produkte so schlecht ab? Nun, wir bewerten Lippenstifte kritischer als viele andere Kosmetikprodukte. Schließlich macht sie die nicht unbeträchtliche orale Aufnahme zu einem Sonderfall, an den wir eher die Maßstäbe von Lebensmitteln anlegen.
Das spielt unter anderem bei der Bewertung von Mineralölbestandteilen und des seit Sommer 2022 in Lebensmitteln verbotenen Weißpigments Titandioxid eine Rolle (mehr dazu weiter unten). Und nicht nur für gesundheitlich bedenkliche Stoffe verdienen manche Lippenstifthersteller Kritik: So ein roter Kussmund wirkt gleich viel unattraktiver, wenn dafür möglicherweise kleine Kinder in illegalen Minen ihr Leben riskiert haben könnten, oder?
Kinderarbeit für schimmernde Lippenstifte
Nach dieser bewusst provokativ formulierten Frage steigen wir ausnahmsweise mal nicht mit den Inhaltsstoffen, sondern einem "Weiteren Mangel" in das Testergebnis ein. Es geht um das Glitzerpigment Mica, auch Glimmer genannt, das in dekorativer Kosmetik für einen strahlenden Auftritt sorgen soll.
Es wird unter anderem in Indien, Madagaskar, China und den USA als Mineral aus dem Boden gewonnen. Teilweise allerdings unter klaren Verstößen gegen die Menschenrechte. Vor allem in Indien, woher etwa ein Viertel des weltweit eingesetzten Mica stammt, erfolgt der Abbau häufig in illegalen Minen.
Für die Menschen dort bringt die Knochenarbeit kaum genug Geld zum Überleben, weshalb selbst kleine Kinder in die bis zu 20 Meter tiefen, selbstgegrabenen und ungesicherten Schächte geschickt werden, um den Glimmer aus dem Boden zu kratzen.
Kosmetikindustrie trägt ethische Mitverantwortung
Eine Auswertung von Vertical-52-Satellitenbildern durch Zeit Online und die Heinrich-Böll-Stiftung zeigte im Mai 2022, dass die Zahl dieser illegalen Minen in Indien entgegen offizieller Aussagen weiter zunimmt.
Obwohl Kinderarbeit im Bergbau per Definition zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit zählt und in allen Staaten der Welt verboten ist, wird die illegale Herkunft des Mica durch verschlungene Lieferwege und Zwischenhändler systematisch verschleiert.
Nun ist die Kosmetikindustrie weder der einzige noch der größte Abnehmer von Mica – dennoch trägt die Branche eine ethische Mitverantwortung. Mit diesem Test legen wir hier erstmals den Finger in die Wunde und verlangen von Herstellern, die Mica in ihren Rezepturen einsetzen, Nachweise über deren Herkunft und die Lieferkette. Dies wird ab sofort Teil der Standardkriterien bei ÖKO-TEST sein.
Ein einziger Anbieter macht Mica-Lieferkette transparent
Die Rückmeldungen, die wir in diesem Test von den Anbietern bekamen, unterschieden sich teilweise deutlich. Ein Anbieter übersandte uns für zwei seiner Lippenstifte in unserem Test eine lückenlose Dokumentation der Lieferkette – von der Mine bis zum fertigen Lippenstift.
Der Rohstofflieferant bezieht das Mica, welches für die beiden Produkte in unserem Test verwendet wurde, aus den USA. Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen beim Abbau können hier glücklicherweise ausgeschlossen werden.
Andere Anbieter antworteten zwar mehr oder weniger ausführlich auf unsere Fragen, schickten aber trotz mehrfacher Nachfrage keine Belege für ihre Angaben. Wieder andere ließen unseren Fragebogen gänzlich unbeantwortet.
Kritik an fehlenden Belegen
Einige Hersteller teilten uns mit, sie oder ihre Rohstofflieferanten seien Mitglieder der Responsible Mica Initiative (RMI) – eines Zusammenschlusses von Unternehmen mit dem Ziel einer fairen und verantwortungsvollen Mica-Lieferkette.
Ein grundsätzlich lobenswerter Ansatz, der Menschenrechtsorganisationen und Unternehmen an einen Tisch bringt. Dennoch wollen wir anhand produktbezogener Belege selbst überprüfen können, ob Kinderarbeit ausgeschlossen werden kann.
Lippenstifte-Test: Fast alle enthalten Titandioxid
Auch was die Inhaltsstoffe angeht, können die meisten Lippenstifte im Test nicht glänzen. So enthalten sie, bis auf vier Ausnahmen, Titandioxid. In Lebensmitteln verbirgt es sich hinter dem Code E 171, in Kosmetik hinter CI 77891. Lange Zeit galt es als unbedenkliche Standardsubstanz für eine Vielzahl von Anwendungen.
Doch in den vergangenen Jahren geriet es immer mehr in die Kritik. Zunächst beim Einatmen, wonach es in der Lunge krebserregend wirken soll. Inzwischen sorgten Hinweise auf eine erbgutverändernde Wirkung bei der oralen Aufnahme sogar für ein EU-weites Verbot als Lebensmittelzusatzstoff. Die Europäische Agentur für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hatte E 171 nach der Sichtung von rund 200 Studien als "nicht mehr sicher" beurteilt.
In Kosmetik darf Titandioxid zwar bislang noch eingesetzt werden. Doch gerade in Lippenstiften sehen wir es aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes durchaus als risikobehaftet an und werten es in Kosmetikprodukten, die oral aufgenommen werden, ab.
Rezepturen sind überarbeitungsbedürftig
Auf unsere Nachfrage, ob sie angesichts des Verbots in Lebensmitteln eine Umstellung auf titandioxidfreie Rezepturen ihrer Lippenkosmetik planen, reagierten die Hersteller überraschend oberflächlich und verwiesen häufig in standardisiert wirkenden Statements darauf, dass Titandioxid in Kosmetik weiterhin erlaubt sei.
Das greift aus unserer Sicht zu kurz und wird der bestehenden Risikoeinschätzung nicht gerecht. Die Hersteller müssen ihre Rezepturen überarbeiten.
Bedenkliche Mineralölrückstände gefunden
Auch Erdölkomponenten wie Paraffine sehen wir wegen der oralen Aufnahme in Lippenkosmetik besonders kritisch. Acht Produkte setzen aber nach wie vor auf Paraffine als Trägerfette. In zweien davon hat das Labor auch aromatische Mineralölkohlenwasserstoffe (MOAH) nachgewiesen, unter denen krebserregende Bestandteile sein können. Das muss nicht sein – es gibt gute natürliche Alternativen wie Bienenwachs, mit denen sich Paraffine ersetzen lassen.
Zudem beanstanden wir Silikone: Sie machen Lippenstifte "kussecht" und sorgen also für eine längere Haftung auf den Lippen. Allerdings reichern sie sich in der Umwelt an und fügen sich nicht so gut ins Gleichgewicht der Haut ein wie natürliche Fette und Öle.
Wenig hautfreundliche Farbstoffe in Lippenstiften
Intensives Rot, mattes Finish – optisch machen die Lippenstifte im Test einiges her. Die Farben haben es teilweise jedoch in sich: Vor allem die Azofarbstoffe Tartrazin (CI 19140) und Gelborange S (CI 15985) sind keine harmlosen Färbemittelchen.
Die EFSA warnt davor, dass Tartrazin bei besonders sensiblen Menschen Unverträglichkeitsreaktionen wie Hautirritationen auslösen kann. In diesem Test färben vier Lippenstifte unter anderem mit Tartrazin. Sechs Produkte enthalten (auch) Gelborange S. Es steht im Verdacht, bei vorbelasteten Personen allergische Reaktionen wie Asthma oder Neurodermitis hervorzurufen.
Diesen Test haben wir zuletzt im ÖKO-TEST Magazin 2/2023 veröffentlicht. Aktualisierung der Testergebnisse/Angaben für das Jahrbuch für 2024 sofern die Anbieter Produktänderungen mitgeteilt haben oder sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die Bewertung von Mängeln geändert oder wir neue/zusätzliche Untersuchungen durchgeführt haben.
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