- Jahrelang war Bio-Pflanzenmilch mit zugesetztem Calcium aus der Rotalge in vielen Supermärkten zu finden.
- Doch dann machte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs den pflanzlichen Calciumdrinks ein jähes Ende.
- Inzwischen gibt es wieder pflanzliche Milchalternativen mit Calcium und in Bio-Qualität zu kaufen.
- Calcium gehört laut Markus Keller, Mitgründer des Forschungsinstituts für pflanzenbasierte Ernährung (IFPE), in Deutschland zu den kritischen Nährstoffen. Etwa die Hälfte der Erwachsenen erreicht den empfohlenen Referenzwert von 1.000 Milligramm (mg) Calcium pro Tag nicht.
Wer von Kuhmilch auf Pflanzenmilch umsteigt, der schont nicht nur das Klima oder vermeidet Tierleid. Er oder sie verzichtet auch auf eine gute Quelle für Calcium und ein paar andere Nährstoffe, die in Kuhmilch enthalten sind.
Gerade für vegan lebende Menschen oder solche, die wegen einer Laktoseintoleranz sämtliche Kuhmilchprodukte meiden, ist mit Calcium angereicherte Pflanzenmilch deshalb schon immer eine bewährte Möglichkeit gewesen, den für den Knochenbau so wichtigen Mineralstoff zu ersetzen.
Umso verwirrter waren Verbraucherinnen und Verbraucher, als vor rund zwei Jahren wie von Zauberhand alle als Calciumdrinks ausgelobten Bio-Pflanzenmilchen aus den Märkten verschwanden. Die einschlägigen Foren liefen heiß: "Leider finde ich keine Bio-Pflanzendrinks mehr mit Kalzium. Hat jemand so einen Drink entdecken können?", fragte etwa VegRomy bei vegpool.de. Die anderen Forumteilnehmer klärten sie auf: Statt Calciumdrinks gebe es jetzt jede Menge Algendrinks.
Darum verschwand Pflanzenmilch mit Calcium aus dem Sortiment
Was war passiert? Ganz einfach: Der Europäische Gerichtshof hatte ein Urteil gesprochen. Und damit einen 16 Jahre gärenden Streit zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem dort ansässigen Pflanzenmilchhersteller Natumi beendet. Es ging in dem Streit um den sogenannten Soya Drink Calcium, den Natumi seinerzeit mit einem Bio-Siegel vertrieb. Der Sojamilch hatte Natumi ein gemahlenes Pulver der abgestorbenen Kalkrotalge Lithothamnium calcareum zugesetzt, das natürlicherweise einen hohen Anteil an Calciumcarbonat enthält.
Genauso machten es andere Bio-Hersteller am Markt seit Jahren. Nur dass es die Kontrollbehörden in deren Bundesländern offenbar weniger genau nahmen. Doch das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz in Nordrhein-Westfalen (LA-NUV) leitete ein Verfahren gegen Natumi in die Wege und bemängelte: Erstens stamme das verwendete Rotalgenpulver gar nicht aus biologischer Herkunft. Und zweitens sei der Zusatz von Calciumcarbonat nach EU-Recht für Bio-Hersteller gar nicht erlaubt.
Denn Bio-Lebensmittel dürfen nur in Ausnahmefällen – beispielsweise für Babynahrung – mit isolierten Mineralstoffen angereichert sein. Im April 2021 entschied der EuGH dann: Das Pulver aus den Sedimenten der Rotalge dürfe tatsächlich nicht in Bio-Pflanzendrinks verwendet werden, wenn es als "nichtökologische / nicht-biologische Zutat landwirtschaftlichen Ursprungs zu deren Anreicherung mit Calcium" diene.
Zusätze in Pflanzendrinks: Calcium stammt aus Algenpulver
Das liest sich erst mal wie ein Verbot – und wie eine Klatsche für alle Bio-Fans, die ihre Ernährung pflanzenbetonter gestalten, aber dennoch nicht auf den Zusatz von Calcium verzichten wollen. Und richtig: Zunächst verschwanden daraufhin alle Bio-Pflanzendrinks mit Calcium vom Markt. Denn eines hatte der EuGH ja ganz klar gesagt: Algenpulver ohne ein Bio-Zertifikat hat in Bio-Pflanzenmilch nichts verloren.
Das Problem war allerdings, dass es zu diesem Zeitpunkt noch kein Algenpulver mit Bio-Zertifikat auf dem Markt gab. Das änderte sich aber bald. Und im Laufe des vergangenen Jahres erschienen peu à peu wieder Bio-Pflanzendrinks mit dem Algenpulver. Nur dass die jetzt nicht mehr Soja + Calcium hießen, sondern zum Beispiel Soja + Alge. Und dass das Algenpulver jetzt aus "biologischer Wildsammlung" stammte, wie es auf den Verpackungen heißt.
EU-Verordnung für Bio-Klassifizierung von Rotalgen
Inzwischen regelte nämlich die EU-Öko-Verordnung, unter welchen Voraussetzungen "Algen und ihre Teile als ökologische oder biologische Produktion" gelten dürfen. In der Verordnung steht beispielsweise, dass die Gewässer, aus denen die Algen stammen, in "gutem ökologischen Zustand" sein müssen oder dass beim Sammeln "nachhaltige Praktiken" anzuwenden sind.
Und so machen es viele Hersteller jetzt. Auch Natumi vertreibt wieder Pflanzenmilch mit Algenpulver, das aus biozertifizierter Wildsammlung stammt. In flachen Küstengewässern Islands sammle man in überwachten Gebieten die zu Boden gesunkenen Skelette der Rotalge, wie uns der Hersteller schreibt.
Rechtslage für Zusätze in Bio-Pflanzenmilch ist unklar
Also alles gut? Fast. Etwas anderes hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil nämlich ebenfalls gesagt: Bio-Hersteller dürfen ihren Lebensmitteln nichts zusetzen, was allein dem Zweck einer Anreicherung dient. Und da wird die Sache für Laien haarspalterisch: Ist das zermahlene Skelett der Rotalge für den EuGH nun ein normales Lebensmittel, das natürlicherweise eben viel Calcium enthält, oder doch schon eine Anreicherung mit Calcium, die dann ja in Bio-Lebensmitteln verboten wäre?
"In diesem Punkt ist das Urteil einfach nicht ganz klar und definiert nicht abschließend, unter welchen Voraussetzungen eine Anreicherung besteht und unter welchen nicht", sagt Matthias Beuger von der Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AÖL). Hier müsse man in jedem Einzelfall entscheiden, zu welchem Zweck ein Hersteller die Alge einsetze und sich auch die Auslobungen ansehen, findet Beuger.
Susanne Rihm vom Bioland-Verband sieht das Anreicherungsverbot im Fall der Algendrinks nicht berührt und argumentiert: "Es handelt sich beim Einsatz der Alge nicht um einen isolierten Mineralstoff, sondern um eine natürliche Zutat landwirtschaftlichen Ursprungs, welche neben dem genannten Calcium auch weitere Mineralstoffe enthält."
Hersteller von Pflanzenmilch sind verunsichert
Neben Calcium sollen beispielsweise verschiedenste Spurenelemente wie Magnesium, Eisen, Phosphor oder Mangan in dem Pulver enthalten sein. Den Kunden, die sich Bio-Pflanzenmilch mit Calciumanreicherung wünschen, dürften solche Spitzfindigkeiten ziemlich egal sein. Und jedem ist im Grunde klar, wozu das Algenpulver in die Milch kommt. Dennoch müssen Bio-Hersteller den Eindruck erwecken, sie mischten das Pulver nicht zum Zweck einer Anreicherung hinein. Manche Anbieter bewegen sich in dieser Grauzone mutig vor.
Der Safthersteller Voelkel schreibt zum Beispiel, wie einige andere auch, den Calciumgehalt seines Haferdrinks nun wieder in die Nährwerttabelle: 120 Milligramm pro 100 Gramm enthält die Pflanzenmilch – genauso viel wie die "echte" Milch von der Kuh.
Andere Hersteller im Bio-Bereich scheinen jedoch noch immer stark verunsichert, wollen zu dem Thema öffentlich lieber nichts sagen und bieten auch keinen Algendrink mehr an. Mit der Konsequenz, dass das Angebot an Bio-Pflanzenmilch mit Algenzusatz ziemlich geschrumpft erscheint gegenüber früher. Denn das Urteil verschaffte den konventionellen Herstellern Zeit, das Feld zu erobern.
Zusätze in Pflanzenmilch: Veganer benötigen Calcium
Aber ist das überhaupt schlimm, und wie viel Sinn hat es, Pflanzenmilch mit Calcium zu versetzen? Markus Keller, Mitgründer des Forschungsinstituts für pflanzenbasierte Ernährung (IFPE) in Gießen, freut sich jedenfalls, dass nun wieder Bio-Pflanzenmilch mit calciumhaltiger Alge auf dem Markt ist. "Die Anreicherung von Pflanzenmilch mit Calcium ist in unseren Augen sehr sinnvoll, und wir empfehlen das ausdrücklich", sagt er.
Denn Calcium gehört in Deutschland zu den kritischen Nährstoffen, und laut Nationaler Verzehrstudie II erreiche etwa die Hälfte der Erwachsenen den empfohlenen Referenzwert von 1.000 Milligramm (mg) Calcium pro Tag nicht.
Risikogruppen für einen Mangel seien vor allem Kinder, weibliche Teenager und ältere Menschen. Dabei liegt die durchschnittliche Aufnahme von Veganern mit 500 bis 900 mg Calcium pro Tag teils noch mal deutlich niedriger als bei Mischköstlern. Der Grund: Milch und Milchprodukte sind die mengenmäßig wichtigsten Quelle für Calcium in Deutschland und liefern etwa 40 Prozent des Mineralstoffs. Dieses Calcium fehlt Veganern für ihren Knochenbau: Studien zeigen etwa, dass Veganer mit einer Calciumzufuhr von unter 525 mg pro Tag mehr Knochenbrüche erleiden.
Gibt es zukünftig Pflanzenmilch mit zugesetztem Vitamin B12?
Und sollte Pflanzenmilch auch mit anderen Nährstoffen versetzt werden, die in Kuhmilch drin sind? Keller kann diesem Gedanken etwas abgewinnen. "Wir sehen seit vielen Jahren, dass es bei Menschen, die keine oder sehr wenig Milchprodukte essen, einige kritische Nährstoffe gibt, bei denen eine Anreicherung sinnvoll wäre." Dazu gehört in seinen Augen neben Jod vor allem Vitamin B12, von dem inzwischen gerade Vegetarier, die ihren Konsum an tierischen Lebensmitteln wie Milchprodukten und Eiern stark eingeschränkt haben, zu wenig zuführen.
Konventionelle Hersteller können diese Zielgruppe derzeit besser bedienen, denn sie dürfen zahlreiche Mineralstoffe und Vitamine in isolierter Form zusetzen. Für eine Calciumanreicherung steht ihnen Calciumcarbonat, Calciumsulfate oder Tricalciumphosphate zur Verfügung. Wobei wir die Phosphate kritisch sehen, da größere Mengen davon den Nieren schaden.
Bio-Hersteller haben bei der Anreicherung mit anderen Nährstoffen derzeit zwar noch das Nachsehen, doch das könnte sich bald ändern: Markus Keller und sein Institut wollen mit zwei Partnern demnächst ein Forschungsprojekt starten, bei dem bestimmte Bakterienstämme im Rahmen der Verarbeitung von Hülsenfrüchten zu Fleischalternativen Vitamin B12 produzieren.
Wie ist der aktuelle Status quo für Pflanzenmilch?
Und wie geht es nun weiter mit den Algendrinks – besteht die Gefahr, dass sie demnächst wieder vom Markt verschwinden? Danach sieht es momentan nicht aus. Wir haben beim ursprünglichen Kläger im Natumi-Prozess, dem LANUV in NRW nachgefragt, was es von den derzeit auf dem Markt befindlichen Pflanzenmilchen hält und ob es weitere rechtliche Schritte plant.
"Diese Produkte sind konform mit dem EuGH-Urteil und auch der Öko-Verordnung", antwortete das LANUV. Man sehe deshalb derzeit weder einen Grund zur Beanstandung, noch plane man weitere juristische Schritte. Das ist eine gute Nachricht für alle Verbraucherinnen und Verbraucher auf dem Weg zu einer pflanzenbetonteren Ernährung. Für Markus Keller war der ganze Streit trotzdem völlig unsinnig und der Verbraucherschutz nur vorgeschoben. "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich Verbraucher aufgrund der Calciumanreicherung getäuscht gefühlt hätten."
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