Mit den Worten "Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen", löste der Bundesvorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, 2003 eine Welle der Empörung aus, auch in der eigenen Partei. Vor allem die Seniorenverbände liefen damals Sturm. Bundesärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe sorgte 2009 für einen ähnlichen Eklat. Er schlug vor, medizinische Leistungen wegen der knappen Mittel künftig nach Dringlichkeit und dem Ausmaß eigenen Verschuldens zu bezahlen. "Krankheiten, die durch unvernünftige Lebensweise entstehen, sollen in der Rangfolge der Behandlung eher unten angesiedelt werden", erklärte er in einem Interview.
Der Münchner Gesundheitsökonom Günter Neubauer schlug in dieselbe Kerbe: "Ein übergewichtiger Mensch sollte seine Hüfte erst erhalten, wenn er auf Normalgewicht kommt." Das sei auch "eine Warnung an andere Übergewichtige, nicht erst alles in sich hineinzufuttern und die negativen Folgen von anderen finanzieren zu lassen."
Darf man Menschen nur aufgrund ihres Alters oder ungesunden Lebensstils bestimmte Therapien vorenthalten? Wäre es gerecht, wenn Raucher, die an Lungenkrebs erkranken, Skifahrer, die sich die Knochen brechen, oder Fettleibige mit kaputten Kniegelenken die Kosten für ihre Behandlung selber tragen müssen? Und wer soll das kontrollieren? "Ärzte würden zu Polizisten", hielt Prof. Peter Sawicki, langjähriger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), dem Ärztepräsidenten entgegen. Die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) nannte Hoppes Forderung im Wahljahr 2009 "menschenverachtend". Und auch ihr liberaler Amtsnachfolger Philipp Rösler lehnt derartige Vorschläge aus ethischen Gründen entschieden ab.
Beitragserhöhungen und Budgets reichen nicht aus
Andererseits: Mit seinem gezielten Tabubruch hat Hoppe eine Debatte angestoßen, die viele Experten in Deutschland für lange überfällig halten. Denn während die Ausgaben für ärztliche Behandlungen explodieren, schrumpfen die Einnahmen der Krankenkassen. Dem System der öffentlichen Gesundheitsversorgung droht der Bankrott. Auch Beitragserhöhungen und strikte Budgets können die finanzielle Talfahrt auf längere Sicht nicht stoppen. Grund ist der Zusammenhang von medizinisch-technischen Innovationen und demografischer Entwicklung. Durch Fortschritte bei der Diagnose und Therapie hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erhöht. Und weil immer mehr Menschen immer älter werden, wächst auch die Zahl der Patienten mit verschlissenen Gelenken, Schwerhörigkeit, Schlaganfällen oder Demenz. Eine Flut von neuen und teuren Spezialmedikamenten gegen Krebs, Rheuma und andere chronische Leiden treibt die Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in die Höhe. Gleichzeitig gibt es immer weniger Menschen mit sozialversicherungspflichtigen Jobs. Heute kommen noch drei Erwerbstätige auf einen Rentner. In 40 Jahren liegt das Verhältnis bei eins zu eins, prognostiziert der Kieler Gesundheitsforscher Prof. Fritz Beske.
Noch hält die Politik am Prinzip der Rundumversorgung fest. Doch schon jetzt klagen Ärzte und Patienten über eine heimliche Rationierung in Kliniken und Praxen. Nicht jeder Kranke bekommt noch das teure Medikament, das er sich wünscht und das ihm auch nützen könnte. Bei der Verteilung der Mittel spielt oft der Zufall eine Rolle: ob etwa der Patient zu Beginn oder am Ende des Quartals im Wartezimmer sitzt, ob er in der Stadt wohnt oder auf dem Land, ob ein Krankenhaus jederzeit über genügend Personal im Operationssaal verfügt oder zur Mangelverwaltung gezwungen ist. Gleiche Fälle werden ungleich behandelt, sodass das Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber Ärzten und Krankenkassen wächst.
Sind die Mittel knapp, müssen Prioritäten her
"Eine implizite Rationierung, wie wir sie heute haben, ist die ungerechteste und unsozialste Form der Leistungseinschränkung", sagt Beske. Man müsse endlich offen und ehrlich darüber reden, dass angesichts der knappen Ressourcen nicht mehr alle Therapiemöglichkeiten angeboten werden können.
Beske und Hoppe fordern eine gesellschaftliche Debatte über Priorisierung in der Medizin - ein Begriff, hinter dem sich ein hochbrisantes Thema verbirgt. Priorisierung heißt Prioritäten setzen. Mit Priorisierung in der Gesundheitsversorgung ist gemeint, dass bestimmte Behandlungen ausdrücklich Vorrang vor anderen haben. In einem öffentlichen Verfahren würden ärztliche Maßnahmen nach ethischen Gesichtspunkten, Kosten und Nutzen gegeneinander abgewogen. Dabei entstünden gesetzlich festgelegte Rangfolgen von Therapiemethoden, Versorgungszielen, Patienten- oder Krankheitsgruppen, die den Zugang zu medizinischen Leistungen steuern sollen. Werden die Mittel knapp, könnte es dann passieren, dass Versicherte für weniger wichtige Behandlungen auf einer Warteliste landen. Möglich ist auch, dass Patienten mit kostengünstigeren Alternativen vorliebnehmen müssten. Oder dass Therapien, die auf der Bewertungsskala weit unten rangieren, aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen ganz verschwänden.
Dennoch: Priorisierung macht die Gesundheitsversorgung besser und gerechter und führt dazu, dass die Bevölkerung ärztliche Entscheidungen leichter nachvollziehen kann. So sehen es zumindest die Befürworter. Sie verweisen auf positive Erfahrungen in anderen Ländern. In Skandinavien beispielsweise ist man schon seit Jahrzehnten bemüht, Prioritätenlisten für medizinische Maßnahmen zu entwickeln. Auch in Großbritannien, Neuseeland, den USA oder Israel gibt es entsprechende Gesetze. Die Schwerpunkte sind unterschiedlich. In Norwegen geht es eher um die Priorisierung von Patientengruppen, während in Finnland der Bedarf und die Effektivität von Untersuchungs- und Therapiemethoden im Mittelpunkt stehen. Als Folge darf dort mit einer Behandlung nur begonnen werden, wenn eine realistische Chance auf Besserung besteht. Abweichungen von den offiziellen Richtlinien sind möglich, müssen aber besonders begründet werden. Andererseits wird nicht akzeptiert, dass Patienten wegen ihres Alters, des sozialen Status oder Lebensstils benachteiligt werden.
Das gilt auch für Schweden, wo das Parlament nach einem jahrelangen Diskussionsprozess ethische Grundsätze für die Gesundheitsversorgung erarbeitet hat. An erster Stelle steht dort das Prinzip der Menschenwürde. So genießen Patienten in ihrer letzten Lebensphase und auch solche mit herabgesetzter Autonomie - Bewusstlose, Demente oder psychiatrisch Erkrankte - im schwedischen Gesundheitssystem hohe Priorität. An zweiter Stelle folgt der Grundsatz Bedarf und Solidarität. Die vorhandenen Mittel müssen also zuerst denjenigen zugutekommen, die sie am dringendsten benötigen. Drittens geht es um das Gebot der Kosteneffizienz, also um ein angemessenes Verhältnis von Kosten und Nutzen einer Therapie.
Schweden gilt als Musterbeispiel einer gelungenen Priorisierungsdebatte. Doch Schweden steht auch für Schwierigkeiten bei der konkreten Umsetzung des neuen Modells: jahrelange Kontroversen, Misstrauen in der Bevölkerung und fehlende Akzeptanz. Auf der Grundlage der vom Reichstag verabschiedeten ethischen Leitlinien sind inzwischen in vielen schwedischen Regionen konkrete Vorschriften zur Priorisierung beschlossen worden. Eine der ersten war die Provinz Östergötland, wo 2003 eine sogenannte Stoppliste für große Unruhe in der Bevölkerung sorgte. Die Streichliste enthielt eine Reihe medizinischer Leistungen, die bis dahin aus öffentlichen Mitteln bezahlt worden waren. Dazu zählten beispielsweise Fruchtwasseruntersuchungen und Kaiserschnitte, die medizinisch nicht notwendig sind, die Entfernung von Krampfadern aus rein kosmetischen Gründen, die Sterilisation von Männern, die Behandlung von leichtem Schnarchen oder Operationen bei gutartigen Tumoren. Auch ein zweites Hörgerät oder Mittel gegen Kopfläuse müssen die Bürger seitdem aus eigener Tasche berappen. Gestrichen wurden außerdem bestimmte Eingriffe bei älteren Menschen, zum Beispiel Gelenkspiegelungen bei Kniebeschwerden, deren Nutzen als relativ gering bewertet wurde.
Von dieser Stoppliste erhoffte sich die Verwaltung jährliche Einsparungen von umgerechnet etwa vier Millionen Euro. Als dann auch noch in der Kleinstadt Norrköping die Notaufnahme eines Krankenhauses geschlossen werden sollte, brach unter den Einwohnern ein Sturm des Protestes los. Die regierenden Sozialisten im Stadtrat kassierten schließlich eine herbe Wahlniederlage. In Schweden zog man daraus den Schluss, Ranglisten niemals zeitgleich mit der Kürzung von Gesundheitsleistungen einzuführen. Seitdem wurden in etlichen Regierungsbezirken ähnliche Prioritätenlisten problemlos durchgesetzt. Und auch in Östergötland haben die meisten Bürger das neue System inzwischen akzeptiert.
Muss nur vernünftig gewirtschaftet werden?
In Deutschland dagegen lehnen fast alle Politiker eine Debatte über die Priorisierung medizinischer Maßnahmen ab. Kritik gibt es auf mehreren Ebenen. Arzneimittelprüfer Sawicki beispielsweise meint, es sei genug Geld im System, es müsse nur vernünftig gewirtschaftet werden. Der renommierte Pharmakritiker rechnet vor, dass die Gesundheitsausgaben hierzulande über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen, Privatpatienten mit einbezogen. Das ist viel im internationalen Vergleich. Doch aus Sicht von Sawicki werden die Mittel teilweise sinnlos verschleudert. Als eines von unzähligen Beispielen nennt er das neue Diabetikermittel Glargin - ein teures Kunstinsulin, das nicht wie die üblichen Humaninsuline zweimal täglich gespritzt werden muss, sondern nur einmal am Tag. Der zusätzliche Nutzen dieses Präparats gilt als zweifelhaft. Für viele Patienten ist er gleich null, wie Internist Sawicki aus eigener Erfahrung weiß. Doch das Medikament, das unter dem Namen Lantus vertrieben wird, beschert dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis weltweit einen Umsatz von rund acht Milliarden Euro im Jahr.
Gleichzeitig wird jetzt überlegt, die Schulungsprogramme für Diabetiker als Kassenleistung zu streichen. Die aber sind hoch effektiv. Mehrere Studien belegen, dass sie die Rate an Todesfällen reduzieren. Für Sawicki ist klar: "Wir machen eine sinnlose Priorisierung, die sich nur danach richtet: Wer schreit am lautesten? Und am lautesten schreien die Pharmaindustrie, die Gerätehersteller, die Ärzte, die Apotheker. Kranke Menschen sind eher leise." Statt für Ranglisten und Wartezeiten plädiert der Gesundheitsexperte deshalb für mehr Effizienz in der Krankenversorgung: "Wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt in Deutschland wirklich nur die Maßnahmen durchführen, die nötig sind, dann könnten wir die Ausgaben mindestens um ein Drittel reduzieren. Das eingesparte Geld müsste dann dort eingesetzt werden, wo es Unterversorgung gibt, beispielsweise für eine bessere Beratung der Patienten und mehr Personal in den Krankenhäusern."
"Offene und verbindliche Kriterien" formulieren
Aber reicht es tatsächlich aus, die vorhandenen Mittel vernünftiger einzusetzen und die Summen für unnütze Untersuchungen und Behandlungen einzusparen? Wird es durch die Mobilisierung sogenannter Effizienzreserven möglich sein, eine umfassende Versorgung der Bevölkerung auch auf lange Sicht zu garantieren - ohne Einschränkungen und ohne Wartezeiten? Viele Fachleute halten das für eine Illusion. Sie werfen den Regierenden vor, sich aus wahltaktischen Gründen vor einer notwendigen Debatte zu drücken. Denn Priorisierung riecht nach Rationierung. Und Rationierung bedeutet, dass man einen Mangel eingesteht und den Bürgern deshalb bestimmte ärztliche Leistungen vorenthalten muss. In Deutschland ist das ein heißes Eisen, an dem sich Politiker leicht die Finger verbrennen können.
Doch es gibt auch gute Gründe für die Skepsis in der Politik. Denn beim Thema Priorisierung geht es nicht nur um knappe Mittel oder Kosteneffizienz, um die Grenzen zwischen medizinischem Fortschritt und nutzlosen Innovationen. Umstritten ist auch die Frage, wie die begrenzten Ressourcen möglichst gerecht verteilt werden können. Ranglisten führen unweigerlich in die Zweiklassenmedizin, befürchten die Gegner des neuen Modells. Denn wenn irgendwann immer mehr Therapien quasi wegpriorisiert werden, geht das auf Kosten der ärmeren Bevölkerung. Arbeitslose oder Niedrigverdiener wären quasi doppelt bestraft: Einerseits sind Menschen mit geringem Einkommen nachweislich häufiger krank, also in besonderem Maß auf ärztliche Hilfe angewiesen. Andererseits haben sie nicht genug Geld, um beispielsweise die Behandlung ihrer chronischen Rückenschmerzen oder die Medikamente gegen Migräne selbst zu bezahlen. Und sie sind auch kaum in der Lage, auf eine Knieoperation zu sparen oder eine Zusatzversicherung für neue Hüftgelenke abzuschließen.
Krankheit als Luxus, den sich nur noch die Besserverdienenden leisten können? Die Befürworter der Priorisierung sehen das genau umgekehrt. Es ist ungerecht, sagen sie, wenn offiziell suggeriert wird, dass es keine Beschränkungen gibt, gleichzeitig aber in verdeckter Form Behandlungen sehr wohl aus finanziellen Gründen verweigert werden. Oder wenn Versicherte Leistungen auf Kosten der Solidargemeinschaft beanspruchen, die sie eigentlich gar nicht benötigen. Nach Meinung des Hamburger Rechtsphilosophen Reinhard Merkel müssen Rationierungen - unter den Bedingungen der Knappheit - nicht unethisch sein. Aus Gründen der Fairness sollten sie jedoch "nach offenen, ausdrücklich festgelegten und allgemein verbindlichen Kriterien" erfolgen. Und das bedeutet auch: Man muss diese Kriterien auf einer Ebene oberhalb der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung formulieren, um sicherzustellen, dass Kranke grundsätzlich und zu jedem Zeitpunkt gleich behandelt werden.
Arme und Alte nicht benachteiligen
Auch die Heidelberger Medizinethikerin Monika Bobbert spricht sich für eine "Hierarchie der Notwendigkeit" aus, doch sie betont: "Menschen aus gesellschaftlich benachteiligten oder stigmatisierten Randgruppen bedürfen besonderer Schutz- und Fördermaßnahmen." Das kann nach ihrer Ansicht nur dadurch geschehen, dass alle Patienten zunächst einmal das bekommen, was notwendig und auch wirksam ist - unabhängig von ihrem Beruf, sozialen Status, ihrem Lebensalter oder ihrer Leistungsfähigkeit. Und egal, ob es sich um eine Volkskrankheit oder ein sehr seltenes Leiden handelt.
Das klingt einfach, ist in der konkreten Umsetzung aber kompliziert. Und hier setzt der dritte Kritikpunkt an: Wer soll beurteilen, was wichtig oder weniger wichtig ist? Wo will man im Einzelfall den Schnitt machen, was zählt als Wunsch- oder Wellnessmedizin? Gehört es zur Aufgabe der Krankenkassen, die Behandlung von Potenzstörungen oder Geschlechtsumwandlungen zu finanzieren? Handelt es sich bei Minderwuchs um ein medizinisches oder soziales Problem? Wer soll feststellen, fragt Sawicki, ob eine Asthmaerkrankung lebensbedrohlich ist oder nicht? Ob eine Kinderwunschbehandlung einer Frau aus einer psychischen Notsituation heraushelfen kann oder verzichtbar wäre? Letztlich kann das immer nur der Arzt zusammen mit dem Patienten entscheiden, davon ist nicht nur Sawicki überzeugt. So manche seiner Medizinerkollegen lehnen Priorisierung auf einer höheren Verwaltungsebene ab, weil das Modell die therapeutische Freiheit beschneidet und das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und seinen Patienten untergräbt. Schließlich sind es ja doch die Behandelnden in den Kliniken und Praxen, an denen Verantwortung hängen bleibt, die die Ranglisten gegenüber den Kranken rechtfertigen und womöglich sogar kontrollieren müssen.
Der Sozialmediziner Prof. Heiner Raspe ist in Deutschland so etwas wie ein Vorkämpfer der Priorisierungsidee. Für ihn ist es eindeutig: Das System der öffentlichen Krankenversorgung kann nur überleben, wenn wir bewusst Prioritäten setzen und die Versicherten auch mit unpopulären Einschnitten konfrontieren. Dabei darf man es nicht den Medizinern an der Basis überlassen, die Kriterien für eine faire Verteilung der Mittel zu definieren - auch zum Schutz der sensiblen Arzt-Patienten-Beziehung. Doch Raspe warnt genauso davor, Prioritätenlisten in abgeschotteten Expertenrunden auszuhandeln, in denen nur die Interessenvertreter das Sagen haben: die Ärzte- und Krankenkassenfunktionäre, die Gesundheitspolitiker und Patientenverbände, die Lobbyisten der Apotheker und der Pharmaindustrie. Der Lübecker Unikliniker will auch der ganz normalen Bevölkerung Gehör verschaffen.
Schon seit zehn Jahren versucht Raspe, einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über Priorisierung anzuschieben. Bisher ist es ihm nicht gelungen. Jetzt hat er die Sache selbst in die Hand genommen und in seiner Stadt Lübeck eine Bürgerkonferenz mit zufällig ausgewählten Teilnehmern organisiert. Es gibt Planspiele und Expertenanhörungen, das Ganze wird professionell moderiert. Raspe sagt: "Bürger sind eben nicht immer Patienten, sondern fast alle Steuerzahler und meist auch Sozialversicherte. Wir brauchen ihre Unterstützung, um das Thema endlich weiter voranzubringen."
Fußballer gefährdeter als Drachenflieger
In Lübeck wird inzwischen auf hohem Niveau über alle Aspekte eines gerechten und solidarischen Gesundheitssystems diskutiert. Vor allem ist es die Frage des Eigenverschuldens, die bei dem Experiment immer wieder für Zündstoff sorgt. So spricht sich ein kleinerer Teil der Konferenzteilnehmer entschieden dagegen aus, den Rauchern, Trinkern oder Drachenfliegern die Behandlung zu bezahlen. "Dann kann man ihnen aber auch deutlich machen, welche Diskriminierungspotenziale mit dieser Forderung verbunden sind", berichtet Raspe. "Welche Überwachungsmaßnahmen plötzlich notwendig werden, wenn man Raucher entlarven will. Dass beispielsweise Fußball der gefährlichste Sport ist, den wir überhaupt haben - und nicht etwa das Drachenfliegen. Und es käme ja kein Mensch auf die Idee, alle Fußballspieler aus der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen."
Natürlich können Laien nicht darüber befinden, ob Medikament A besser ist als Medikament B oder in welchem Fall sich der Einsatz eines Computertomografen tatsächlich lohnt. Geht es nach Raspe, dann gehört die Stimme der Bürger den ethischen Grundsätzen, auf denen Priorisierung aufbauen soll. Über die medizinischen Details von Ranglisten entscheiden dann die Experten. Was das für die Patienten konkret bedeuten kann, hat kürzlich der Tübinger Medizinethikprofessor Georg Marckmann am Beispiel der koronaren Herzerkrankung vorgeführt. Die sogenannte Arteriosklerose, die weltweit an der Spitze der Todesursachen steht, beansprucht einen erheblichen Teil des öffentlichen Budgets. "Kostensensible Leitlinien" (KSLL) nennt sich das Modell, das Marckmann und sein Forscherteam mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums entwickelt haben. Dem behandelnden Arzt wird darin vorgegeben, wer einen teuren Stent erhält - eine Art Implantat, das die Gefäße offen halten soll - und welche Patienten auf eine preisgünstigere Alternative ausweichen müssen. Die Forscher erwarten, dass Herzkranke mit kleinen Gefäßen und einer langen Engstelle von einer teuren Maßnahme eher profitieren. Ihre Leidensgenossen dagegen, die größere Gefäße, kürzere Verengungen und deshalb auch ein geringeres Infarktrisiko haben, bekommen nur einen schlichten Metallstent bezahlt. Nach dem Urteil der KSLL-Forscher ist das gerecht und kosteneffizient.
"Die Politik würde gerne über Aspekte diskutieren wie Arzneimittelpreise, Überversorgung, Qualität, Transparenz, Effizienz. Sie sagt: Wenn wir jetzt öffentlich eine große Priorisierungsdiskussion vom Zaun brechen, dann werden diese wichtigen Themen verdrängt", weiß Sozialmediziner Raspe. Und er sagt weiter: "Das verstehe ich sogar. Aber das ist für uns kein Grund nachzulassen."
Pro
"Wir haben es mit einer Lebenslüge der Gesundheitspolitik zu tun"
Für eine breite Diskussion über Prioritäten in der medizinischen Versorgung: Professor Heiner Raspe, Direktor des Instituts für Sozialmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.
ÖKO-TEST: Sollen die Kassen zukünftig bestimmte ärztliche Behandlungen nicht mehr bezahlen, weil sie weniger wichtig sind?
Raspe: Es werden schon jetzt ständig Prioritäten gesetzt. Ein Beispiel: In den letzten zwei Jahren sind die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nominal um 15 Prozent gestiegen. Dieser Zuwachs ist natürlich nach Prioritäten verteilt worden, unter anderem an Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte. Man muss - außerhalb des Paradieses - eigentlich immer priorisieren. Das ist besonders wichtig unter dem Eindruck begrenzter Mittel im Gesundheitswesen. Aber auch wenn Mittel wachsen, muss man sich überlegen, wofür man es prioritär ausgeben will.
ÖKO-TEST: Die Politik will dieses Thema nicht anpacken. Warum?
Raspe: In Deutschland wird das Thema Priorisierung immer gleich mit Knappheit und Rationierung in Verbindung gebracht. Und Rationierung ist ein politisches Unwort, weil es klarmacht, dass wir es mit einer Lebenslüge zu tun haben. Beispielsweise hat die CSU ja noch bis vor Kurzem gesagt: Jeder Patient bekommt die beste Versorgung überall und jederzeit. Die GKV-Versicherten haben aber sozialrechtlich gesehen gar keinen Anspruch auf die allerbeste Versorgung. Die Versorgung muss nur ausreichend und zweckmäßig und wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
ÖKO-TEST: Es geht also doch um Rationierung?
Raspe: Priorisierung bedeutet nicht automatisch, dass Patienten aus Knappheitsgründen etwas vorenthalten wird. Priorisierung heißt, dass man zunächst einmal gedanklich Ordnung schafft. Was ist uns wichtig? Die Politik redet immer über die Einnahmeseite - über Kopfpauschale, Staatszuschüsse, höhere GKV-Beiträge. Die Priorisierungsdiskussion betrachtet dagegen die Ausgabenseite. Wie wollen wir unsere Mittel verteilen? Wofür wollen wir sie bevorzugt ausgeben? Das ist ein Wechsel in der Perspektive.
ÖKO-TEST: Aber wenn es wirklich knapp wird, kann Priorisierung doch zur Grundlage von Rationierung werden?
Raspe: Genau. Aber dazu muss man erst einmal wissen, welche medizinischen Leistungen Vorrang haben sollen und welche weniger wichtig sind. Das ist gar nicht so einfach. Zum Beispiel wird immer gesagt, dass die Rettung von Schwerverletzten - etwa Unfallopfern mit lebensbedrohlichen Blutungen oder Verbrennungen - absolute Priorität haben muss. Wenn man diese sogenannte Rule of Rescue ernst nimmt, dann fallen Präventivmaßnahmen schon mal weiter nach hinten. Dann müsste sich die Politik dazu auch offen bekennen und sagen, dass manche Primärprävention und auch manche Früherkennungsprogramme eben nicht mehr so wichtig wären.
ÖKO-TEST: Nehmen wir das Beispiel Mammografie-Screening.
Raspe: Dieses Mammografie-Programm kostet sehr viel Geld, im Augenblick ungefähr 150 Millionen Euro pro Jahr. Wenn es voll ausgefahren wird, sollen es 400 Millionen sein. Dafür profitiert dann in zehn Jahren eine von tausend Frauen, die nicht an Brustkrebs stirbt. Andererseits gibt es auch Risiken durch falsche Diagnosen und Übertherapie. Ich bin eigentlich ein Gegner von IGEL-Leistungen (Individuelle Gesundheitsleistungen), weil ich sie für die Axt an der Wurzel der Arzt-Patient-Beziehung halte. Aber die Mammografie wäre nach meiner Ansicht eine akzeptable IGEL-Leistung. Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Warum kann eine Frau nicht alle zwei Jahre 40 Euro für eine Mammografie bezahlen, wenn ihr persönlich diese Information wichtig ist?
Contra
"Wir haben eine Überversorgung"
Gegen Festlegung von Prioritäten in der Gesundheitsversorgung: Der Internist und renommierte Pharmakritiker Professor Peter Sawicki leitete sechs Jahre lang das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), das Nutzen und Schaden von Arzneimitteln untersucht.
ÖKO-TEST: Sie haben sich öffentlich gegen Priorisierung in der Gesundheitsversorgung ausgesprochen. Warum?
Sawicki: Natürlich müssen wir Prioritäten setzen. Die Frage ist nur, auf welcher Ebene. Wie dringend eine Behandlung ist, kann der Arzt immer nur vor Ort feststellen, und zwar zusammen mit dem Patienten. Dagegen bedeutet Priorisierung auf staatlicher Ebene nach meiner Definition, dass man Patienten bestimmte notwendige Behandlungen verweigert, weil man sie grundsätzlich für minder wichtig hält.
ÖKO-TEST: Aber doch nur, wenn die Mittel tatsächlich knapp sind?
Sawicki: Unsere Mittel sind begrenzt, aber nicht knapp. Wir haben eine Überversorgung mit Arzneimitteln, mit Großgeräten, mit fachärztlichen Untersuchungen, die doppelt oder sogar dreifach durchgeführt werden. Wir haben auch eine Überversorgung bei den stationären Aufnahmen. Es geht darum, ob wir in Deutschland - bevor wir Notwendiges vorenthalten - das nicht Notwendige ausgeschlossen haben.
ÖKO-TEST: Tatsache ist aber, dass es schon jetzt so etwas wie eine verdeckte Priorisierung gibt. Ärzte entscheiden häufig nach rein ökonomischen Kriterien.
Sawicki: Ja, sicher. Ein Arzt wird erst einmal den Patienten, an dem er das meiste verdient, nach oben priorisieren. Das müsste man kontrollieren. Oder man müsste das System so ändern, dass ein Arzt kein Interesse daran hat, eher eine Herzkatheter-Untersuchung zu machen als eine gründliche Ernährungsberatung.
ÖKO-TEST: Wie könnte man das regeln?
Sawicki: Indem man Ärzte anstellt wie beispielsweise auch Richter. Die bekommen ein hohes Gehalt, aber nicht dafür, dass sie möglichst viele Menschen zu lebenslanger Haft verurteilen. Genauso darf es für Ärzte keinen finanziellen Anreiz geben, Patienten durch alle möglichen Untersuchungen durchzuschleusen. Ärzte dürfen kein finanzielles Interesse haben, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Das ist ein grundethisches Problem, so alt wie die Medizin.
ÖKO-TEST: Es bleibt die Frage, wie wir den medizinischen Fortschritt in Zukunft finanzieren wollen.
Sawicki: Genau. Aber erst einmal müssen wir klären, was Fortschritt überhaupt ist. Wenn wir zum Beispiel ein neues Computertomografiegerät haben, dann müssen wir das mit den bisherigen bildgebenden Verfahren vergleichen. Wir müssen durch Studien belegen, ob Menschen damit besser, länger oder einfacher leben, oder ob es genauso gut, aber kostengünstiger ist. Das gilt genauso für Medikamente. Warum soll man auf Kosten der Allgemeinheit mehr Geld für einen neuen Blutdrucksenker bezahlen, der nicht besser Schlaganfälle und Herzinfarkte verhindert als die bisherigen Mittel? Es gibt pro Jahr vielleicht zwei oder drei neue Präparate, die einen echten Fortschritt darstellen. Und bei diesen Medikamenten müssen wir dann mit den Herstellern über die Preise sprechen.
ÖKO-TEST: Was ist mit den neuen, teuren Krebsmedikamenten? Deren Nutzen ist oft marginal. Aber Krebskranke werden doch nach jedem Strohhalm greifen?
Sawicki: Wenn man in Deutschland alle Patienten umfassend und objektiv darüber aufklären würde, welche Erfolgschancen beispielsweise eine Stammzelltransplantation oder bestimmte Krebsmedikamente haben, dann würden sie sich in vielen Fällen dagegen entscheiden. Sie würden sagen: Nein, für eine Woche theoretische Lebensverlängerung gehe ich nicht ins Krankenhaus. Und ich nehme nicht diese Tablette, von der mir schlecht wird und die Haare ausfallen.
ÖKO-TEST: Dennoch wird die Solidargemeinschaft irgendwann nicht mehr alle Behandlungen finanzieren können, deren Nutzen belegt ist und die sich Patienten auch nach umfassender Aufklärung wünschen.
Sawicki: Ich halte das für unwahrscheinlich. Denn fast alle Therapien, die wirklich fortschrittlich sind, sind auch kostensparend. Aber wenn eines Tages unsere Mittel tatsächlich nicht mehr ausreichen sollten, obwohl die Ärzte eine vernünftige Medizin machen und obwohl es keine Überversorgung und keine Verschwendung mehr gibt, dann müssen wir uns natürlich überlegen, welche Maßnahmen wir nicht mehr bezahlen.