Die nordhessische Kleinstadt Wolfhagen hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite der beschauliche Flecken an der Märchenstraße, gedrängte Fachwerkhäuser, verwinkelte Gässchen, Romantik pur. Auf der anderen Seite die Energiestadt der Zukunft, Ideenbörse und Vorreiter auf dem Weg zu neuen Technologien. Als erste Kommune in der Region hat sich Wolfhagen aus den Klauen des Energiegiganten Eon befreit und sein örtliches Stromnetz zurückerobert. Jetzt peilen die Stadtväter ihre nächsten Ziele an. Bis zum Jahr 2015 wollen sie ihre Bürger zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien versorgen: mit selbst erzeugtem Strom aus Bio-Masse, Sonne und Wind.
Dass die 13.000-Seelen-Gemeinde es wagte, dem mächtigen Eon-Konzern die Stirn zu bieten, liegt vor allem an Martin Rühl. Der 45-jährige Diplomingenieur ist Geschäftsführer der Stadtwerke Wolfhagen - ein Mann der Tat und ein überzeugter Klimaschützer. Rühl war klar: Nur wenn das stadteigene Versorgungswerk auch über das komplette lokale Verteilernetz verfügt, kann es vor Ort die Energieversorgung steuern. Für ihn ist das kommunale Stromnetz der Schlüssel zum raschen und dezentralen Ausbau erneuerbarer Energien. Aber die Eon, die diese Netze schon vor Jahrzehnten erworben hat, war nicht bereit, sie freiwillig wieder herzugeben. Schließlich sind die Leitungen nicht nur eine lohnende Geldanlage, sondern vor allem ein wirksames Instrument für knallharte Interessenpolitik. Mit dem Auslaufen der Konzessionsverträge Ende 2005 witterten die Wolfhagener ihre Chance.
"Die Konzessionsverträge sind ein scharfes Schwert"
Juristisch ist die Sache klar, denn die Gemeinden sind grundsätzlich Eigentümer der Konzession. Das bedeutet: Sie haben das Recht, die Niederspannungsnetze auf ihrem eigenen Gebiet zu betreiben. Oder sie können diese Aufgabe gegen jährliche Gebühren auf ein privates Versorgungsunternehmen übertragen. In der Regel werden solche Konzessionsverträge auf 20 Jahre abgeschlossen und danach routinemäßig verlängert. Nicht so in Wolfhagen. Bürgermeister und Stadträte beschlossen, das Nutzungsrecht nun an die eigenen Stadtwerke zu vergeben. "Mit den Konzessionsverträgen haben die Kommunen ein scharfes Schwert, mit dem sie ihre eigene Energiepolitik wieder in die Hand nehmen können", sagt Rühl.
Das Problem sind allerdings die Kosten. Die Konzession hat nämlich noch nichts mit dem Eigentum an den Leitungen zu tun. Wenn die Stadt ihrem privaten Vertragspartner kündigt, dann hat sie eigentlich auch das Recht, ihr Stromnetz zurückzukaufen. So hat es der Karlsruher Bundesgerichtshof erst kürzlich in einem Grundsatzurteil klargestellt. Doch genau das wollte der Riese Eon mit allen Mitteln verhindern.
Die Kommunen wollen ihr Tafelsilber wieder zurück
Das Unternehmen spielte auf Zeit und versuchte, den Preis in die Höhe zu treiben. Und weil Stromnetze keine freie Handelsware sind, weiß niemand so genau, wie man ihren wahren Wert ermitteln soll. Es folgte ein jahrelanges zähes Ringen zwischen der Kleinstadt und dem Konzern, ein Kampf zwischen David und Goliath. Gestritten wurde um Sachwerte, Ertragswerte, Buchwerte, Restwerte. "Mit diesem Thema können Sie drei Jahre und anderthalb Meter Akten füllen", weiß Rühl aus leidvoller Erfahrung. Doch am Ende siegte die Stadt, weil sie drohte, vor Gericht zu ziehen - gerade noch rechtzeitig, bevor sie die Konzessionsverträge hätte erneuern müssen.
Das Beispiel Wolfhagen könnte Schule machen. Allein in Nordhessen wollen jetzt zwanzig Nachbargemeinden folgen. Der Trend zum Rückkauf der örtlichen Leitungssysteme breitet sich immer weiter aus. Ob in Schleswig-Holstein oder in Sachsen, in Brandenburg oder am Bodensee - überall in der Republik wollen Städte und Gemeinden sich wieder unabhängig von den Stromkonzernen machen.
Die Gelegenheit ist günstig. Der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) hat ausgerechnet, dass bis Ende 2011 in Deutschland zweitausend Konzessionsverträge enden. Der Grund liegt zwanzig Jahre zurück: Anfang der 90er-Jahre erlebte die Privatisierungswelle ihren ersten Höhepunkt, als nach der Wende in den ostdeutschen Bundesländern die Konzessionen neu vergeben wurden. Auch im Westen verscherbelten damals etliche Kommunen ihr Tafelsilber und stopften mit dem Erlös aus den Netzverkäufen ihre Haushaltslöcher. Mit der Liberalisierung der Energiewirtschaft - zehn Jahre später - setzte sich diese Entwicklung fort. Nutznießer waren die vier Branchenführer Eon, RWE, Vattenfall und EnBW, sie griffen gerne zu. Heute kontrolliert das Kartell nicht nur rund 85 Prozent der Kraftwerkskapazitäten, sondern auch einen Großteil der lokalen Stadtwerke und Verteilernetze. Die Folgen: weniger Transparenz, weniger Wettbewerb, überhöhte Strompreise, Hindernisse beim Umbau der Energiesysteme.
Doch auch die alten Monopolisten können sich der Forderung nach mehr Klimaschutz nicht ganz verschließen. Zudem machen ihnen unabhängige Anbieter von Öko-Strom Konkurrenz. Als Reaktion haben die vier Großen inzwischen eigene Umweltsparten gegründet, die unter so wohlklingenden Namen wie Naturenergie (EnBW), Climate & Renewables (Eon) oder New Energy (Vattenfall) firmieren.
Etikettenschwindel beim Öko-Strom
Was die Konzerne allerdings gegen Aufpreis als grünen Strom vermarkten, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen meistens als Etikettenschwindel. Laut Greenpeace handelt es sich dabei oft um Strom aus uralten Wasserkraftanlagen, die aus dem üblichen Energiemix einfach ausgegliedert werden. Häufig wird dreckiger Strom auch durch fragwürdige Zertifikate reingewaschen, die die Konzerne beispielsweise von Wasserkraftbetreibern in Norwegen billig erwerben. Durch diesen Trick können sie ihre Produkte aus Kohle- und Atomkraftwerken ganz legal zu Öko-Strom umdeklarieren, ohne dabei selbst in Regenerativenergien zu investieren. Der bloße Herkunftsnachweis reicht aus.
"Strom kann nur als Öko-Strom oder ökologisch korrekter Strom bezeichnet werden, wenn Anlagen, die den Strom produzieren, wegen der Öko-Strom-Nachfrage zusätzlich gebaut werden", bemerkt dazu der Saarbrücker Energieexperte Prof. Uwe Leprich. Ein besonders dreistes Täuschungsmanöver leistet sich übrigens RWE. Das Unternehmen wirbt in einer groß angelegten Kampagne für seinen angeblich zu hundert Prozent umweltfreundlichen ProKlima-Tarif. In Wahrheit verbirgt sich dahinter der Strom aus deutschen Atomkraftwerken.
Was aber haben die großen Konzerne bisher wirklich zum Ausbau der erneuerbaren Energien beigetragen? Und welchen Stellenwert bekommen Wind, Sonne, Bio-Masse und Wasserkraft bei ihren zukünftigen Investitionen? Um das herauszufinden, hat das Berliner Institut für Wirtschaftsforschung (IÖW) im Auftrag von Greenpeace die Unternehmensdaten in einer umfangreichen Studie analysiert. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Rechnet man die alten und bereits abgeschriebenen Wasserkraftwerke heraus, dann sinkt der Anteil wirklich neu gebauter Regenerativanlagen auf 0,1 bis 1,7 Prozent. Alle vier Konzerne verkünden, in Zukunft mehr zu tun, um die schädlichen Treibhausgase zu reduzieren.
Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Gerade einmal zehn bis 15 Prozent ihrer Investitionen stecken die Branchenführer Eon und RWE in den nächsten Jahren in die Erzeugung von sauberem Strom. Zu wenig, um die Klimaschutzziele der EU noch rechtzeitig zu erfüllen. Hauptsächlich planen die großen Energieversorger riesige Windparks auf See. Dabei ist offen, ob die noch wenig erprobten Offshoreanlagen die erhofften Strommengen auch tatsächlich liefern können. Andere Technologien wie Geothermie, Bio-Gas oder Photovoltaik spielen dagegen keine Rolle. Die Konzernmanager begründen das mit einer "zu geringen Wirtschaftlichkeit" oder niedrigen Rendite. Die Sonne als Energiequelle taugt in ihren Szenarien allenfalls für ein Jahrhundertprojekt wie Desertec - ein Mammutkraftwerk, das in der nordafrikanischen Wüste irgendwann einmal Unmengen von Solarstrom erzeugen und nach Europa liefern soll. Ob es je gebaut wird, steht in den Sternen.
Energieriesen investieren nur in Großkraftwerke
Auch bei den erneuerbaren Energien bleiben die Strom-Dinos ihren alten Mustern treu: Sie investieren in gigantische Großkraftwerke. Kleinere, dezentrale und flexible Anlagen versuchen sie dagegen zu verhindern oder zumindest zu verschleppen, weil sie um ihre geballte Marktmacht fürchten.
Doch nun rumort es in den Gemeinden. Das hat zum einen mit den ständig kletternden Strompreisen und Milliardengewinnen der großen Unternehmen zu tun. Viele Kommunen haben nachgerechnet und halten den Ausverkauf ihrer Stromnetze inzwischen für ein schlechtes Geschäft. Es stört sie, dass die Durchleitungsgebühren aus dem Netzbetrieb seit Jahrzehnten an den Gemeinden vorbei in die Kassen kapitalstarker Konzerne fließen.
Aber es geht nicht nur ums Geld. Immer mehr Stadtwerke und Kommunen wollen mit ihren Verteilernetzen auch den Einfluss auf die örtlichen Stromsysteme zurückgewinnen. Sie wünschen sich eine gemeindenahe und nachhaltige Energieversorgung: Bio-Gas-Anlagen in den ländlichen Regionen, Solarstromzellen auf Hausdächern, kleine Windparks in Bürgerhand - dezentrale und klimafreundliche Minikraftwerke, die durch die Förderung aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) auch wirtschaftlich betrieben werden können. Die Wertschöpfung soll in den Regionen bleiben. Auf Dauer erhoffen sich die Lokalpolitiker durch die Regenerativenergien sogar günstigere Strompreise, weil fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl oder Erdgas immer teurer werden. Atomenergie gilt ohnehin als Auslaufmodell. "Wir können heute von einer Renaissance der Stadtwerke sprechen", sagt VKU-Geschäftsführer Hans-Joachim Reck. "Es gibt eine Rückbesinnung auf die Kraft der Kommunalwirtschaft."
Diese Kraft wird im hessischen Wolfhagen gerade auf eine harte Probe gestellt. Dort kann man erfahren, was es bedeutet, die Energiewende von unten auf den Weg zu bringen. Nach dem erfolgreichen Duell mit dem Eon-Konzern ist die Kleinstadt inzwischen komplett auf Öko-Strom umgestiegen. Noch wird ihr Bedarf durch ein Wasserkraftwerk in Österreich abgedeckt, aber in fünf Jahren wollen die Wolfhagener ihre gesamte Elektrizität selbst erzeugen. Mit Photovoltaikanlagen auf ihren Dächern haben sie schon die Fünfzehn-Prozent-Marke erreicht, weitere Anteile soll ein geplantes Bio-Masse-Kraftwerk beisteuern. Und läuft alles nach Plan, werden sich demnächst im umliegenden Hügelland fünf große Windräder drehen. Dann ist die Ziellinie erreicht. Stadtwerke-Chef Rühl rechnet vor, dass alleine die Windmühlen jährlich für eine Ersparnis von 15.000 Tonnen schädlicher Treibhausgase sorgen: "Über eine Tonne weniger CO2 pro Einwohner, das ist für den Klimaschutz in Wolfhagen ein großer Schritt."
Schlaue Netze und rollende Stromspeicher
Der studierte Energie- und Wärmetechniker hat sein Büro in einem modernen Passivhaus, das mit seinen 600 Quadratmetern Wohnfläche nur halb so viel Heizenergie verbraucht wie ein normales Einfamilienhaus. Längst bastelt der umtriebige Stadtwerke-Chef schon an seinem nächsten Projekt. Intelligente Stromnetze und komplexe Regelsysteme sollen die Regenerativenergien zu einem sinnvollen Gesamtsystem vernetzen. Dazu gehören vollautomatische Stromzähler, die den Verbrauch in den Haushalten präzise und minutengenau erfassen. Sie sorgen dafür, dass Waschmaschine oder Spüler immer dann ihre Arbeit verrichten, wenn es sauberen Strom im Überfluss gibt - beispielsweise wenn der Wind besonders kräftig weht. Auch Elektroautos als rollende Stromspeicher könnten mit dem überschüssigen Saft nachts ihre Batterien laden. In Wolfhagen ist bereits eine solche Stromtankstelle geplant.
Es könnte alles so schön sein, wäre da nicht die Bürgerinitiative, die vor Ort den Widerstand gegen den Windpark organisiert. Gegner und Befürworter stehen sich in Wolfhagen unversöhnlich gegenüber. Für die einen sind die geplanten Windkraftanlagen ein Signal von Aufbruch und Veränderung, eine Möglichkeit, etwas zum Schutz dieses Planeten beizutragen. Die anderen lehnen die 180 Meter hohen Riesenräder strikt ab: Sie würden die Landschaft verschandeln, den Wald zerstören und geschützte Vogelarten bedrohen wie Schwarzstorch, Rotmilan oder seltene Fledermäuse. Es steht viel auf dem Spiel. Gerade hat Wolfhagen in einem Bundeswettbewerb zum Thema energieeffiziente Stadt die nächste Runde erreicht, mit guten Chancen auf einen der begehrten Siegerplätze. Es winken Fördergelder in Millionenhöhe. Aber Martin Rühl weiß: Ohne den Windpark - das Kernstück seines Konzepts - wären die Hoffnungen wohl dahin. Den Bürgermeister, die Stadtverordneten und einen Großteil der Anwohner hat der Stadtwerke-Chef hinter sich. Jetzt will er einfach abwarten und sagt: "Wolfhagen muss selbst wissen, was es will."
Modellstadt Schwäbisch Hall
Solche Sorgen kennt Johannes van Bergen nicht. Der Spezialist für Kraftwerkstechnik steht seit zwanzig Jahren an der Spitze der Stadtwerke Schwäbisch Hall und hat den Energieversorger zu einem ökologischen Vorzeigeunternehmen geformt. Wie sein Kollege Rühl strebt er an, die Stadt auf 100 Prozent erneuerbare Energien umzurüsten. Allerdings verfolgt van Bergen eine andere Strategie: Er setzt auf einen breiteren Mix aus Wasserkraft, Wind, Sonne, Bio-Masse und - als wichtigste Säule - technische Innovationen und Effizienz. So hat er Schwäbisch Hall in Deutschland zur führenden Stadt im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) gemacht. Bei dieser Technologie werden in Blockheizkraftwerken gleichzeitig Strom und Wärme erzeugt. Das spart viel Energie und verringert so den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid.
Techniker van Bergen hält wenig von KWK-Anlagen im Miniaturformat, die häufig in den Kellern von Einfamilienhäusern stehen. Die können nämlich nur etwa zwölf Prozent der eingesetzten Energie in Strom umwandeln. In Schwäbisch Hall dagegen haben sie große Anlagen mit beachtlichen 45 Prozent elektrischem Wirkungsgrad entwickelt. Der 59-jährige Energiemanager liebt Herausforderungen dieser Art. Er ist kein typischer Öko-Aktivist, eher ein Macher, der sein Geschäft versteht. "Windräder aufstellen? Das ist ja keine große Kunst und auch kein großes Risiko", spöttelt van Bergen nicht ohne Stolz. Durch die baden-württembergische Kreisstadt mit seinen 30.000 Treppen und großen Höhenunterschieden schlängelt sich heute ein 20 Kilometer langes Fernwärmenetz, sodass die umweltverträgliche Heizenergie praktisch überall zum Einsatz kommen kann. Der Geschäftsführer schätzt die Kraft-Wärme-Kopplung auch als ein Instrument, um schrittweise auf erneuerbare Energien umzusteigen. So wird als Brennstoff bei den Stadtwerken Schwäbisch Hall heute überwiegend Pflanzenöl verwendet: "Es darf natürlich nicht aus den Regenwäldern kommen", sagt er.
"Das Stromnetz ist die Verbindung zum Kunden"
Die Energiekonzerne haben mit der klimafreundlichen Kraft-Wärme-Kopplung natürlich wenig am Hut. Sie wittern eine Konkurrenz zu ihren Großstromtechnologien. Van Bergen ist auf die Branchenriesen deshalb auch nicht besonders gut zu sprechen. Er ärgert sich, dass beispielsweise die RWE durch sogenanntes Wärme-Contracting die Industriebetriebe ganz gezielt mit Heizwärme zu Dumpingpreisen ködert, nur um die Anbieter von Kraft-Wärme-Kopplung aus dem Feld zu schlagen. "Diese Konzerne sind doch reine Kapitalunternehmen und haben von Kraftwerkstechnik im Grunde keine Ahnung", sagt der Energieexperte. "Die sind schon organisatorisch gar nicht in der Lage, sich an die neue, dezentrale Welt anzudocken." Zum Glück hat Schwäbisch Hall sein Stadtwerk und seine Stromleitungen nie hergegeben, sonst hätte van Bergen seine Ideen hier kaum verwirklichen können.
Rein rechtlich sind die Betreiber der Netze eigentlich verpflichtet, ihre Kabel fit zu halten und jedes neue Kraftwerk anzuschließen. Das gilt für die kleinen Stadtwerke genauso wie für die großen Konzerne. Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Wer die Netze besitzt, hat auch die Macht - und viele Möglichkeiten, unliebsame Projekte über Jahre zu sabotieren. "Da werden dann alle nur denkbaren Argumente vorgebracht, um die nötigen Investitionen hinauszuschieben, nur weil man Kraft-Wärme-Koppelung oder erneuerbare Energien verhindern will", weiß der Stadtwerke-Chef aus Erfahrung. Sein Unternehmen kooperiert inzwischen mit vielen Kommunen in der Region, hat zwanzig Tochtergesellschaften und schon etliche lokale Stromnetze zurückgekauft. Dabei betrachtet van Bergen die örtlichen Verteilerleitungen nicht als direkte Eintrittskarte in die erneuerbaren Energien. Er sagt: "Das Netz ist die Verbindung zum Kunden, das ist das Entscheidende für mich." Und über diese Kundenbeziehung haben Stadtwerke die Möglichkeit, die Endverbraucher zu informieren und zu beraten, moderne Technologien anzubieten und bei ihrer Umsetzung konkrete Hilfe zu leisten. Ähnlich sieht es auch sein Wolfhagener Kollege Martin Rühl: "Als Stadtwerke können wir Impulse setzen und so die lokale Energiepolitik mitgestalten."
Das Stromnetz
Es wird unterschieden zwischen den Verteiler- und Übertragungsnetzen. Beide Systeme werden von der Bundesnetzagentur überwacht.
Verteilernetze: Dabei handelt es sich um die regionalen Mittelspannungs- und Niederspannungsnetze, die die elektrische Energie zum Endkunden bringen. Diese Stromkabel sind meistens unter der Erde verlegt. Teilweise befinden sie sich noch in kommunaler Hand, also bei den Stadtwerken. Ein anderer Teil wurde dagegen von den vier großen Energiekonzernen Eon, RWE, Vattenfall Europe und EnBW zwischen 1992 und 2002 geschluckt.
Übertragungsnetze: Das sind Hochspannungsnetze, die für den überregionalen Stromtransport zuständig sind und auch die Sicherheit des Systems gewährleisten. Diese Fernleitungen hatten die vier großen Energiekonzerne in Deutschland bisher unter sich aufgeteilt. In jeder der vier Regelzonen wird die Stabilität der Stromnetze momentan noch gesondert gesichert. Verbraucherschützer und auch die EU-Kommission fordern aber schon lange eine Entflechtung von Stromanbietern und Netzbetreibern, weil die Konzerne über den Zugang zu ihren Netzen den Wettbewerb auf dem Strommarkt behindern. Um einer Kartellstrafe zu entgehen, hat Eon jetzt den Verkauf seines Hochspannungsnetzes an den niederländischen Betreiber Tennet bekannt gegeben. Auch Vattenfall will sein Netz verkaufen, während RWE und EnBW an ihrem Besitz weiter festhalten.
Gründung einer deutschen Netz AG: Durch die aktuellen Verkaufspläne wird allerdings eine andere Forderung der Energieexperten erschwert: die Bündelung aller Hochspannungsnetze in einer Deutschen Netz AG unter öffentlicher Kontrolle. Der Hintergrund: Im Zuge der Energiewende müssen die Stromautobahnen ausgebaut werden, um die dezentralen, erneuerbaren Energien im Netz aufzunehmen, über weite Strecken auch über die Grenzen hinweg zu transportieren und aufeinander abzustimmen. Dieser Prozess muss zentral gesteuert werden. Auch Schwarz-Gelb strebt die Gründung einer Deutschen Netz AG an, im Koalitionsvertrag ist aber von einer öffentlichen Beteiligung keine Rede.
Interview
Stadtwerke können eine Menge bewegen
Der Energieexperte Uwe Leprich ist Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) des Saarlandes und wissenschaftlicher Leiter des Saarbrücker Institut für ZukunftsEnergieSysteme (IZES).
ÖKO-TEST: Warum bremsen die Stromkonzerne eigentlich den Ausbau erneuerbarer Energien?
Leprich: Die großen Energiekonzerne betreiben ja vor allem die Grundlastkraftwerke. Das sind Braunkohle- und Kernkraftwerke, die sehr teuer in der Anschaffung sind und sehr lange laufen müssen, damit sie ihre Kapitalkosten refinanzieren können. Nun haben wir aber immer mehr schwankende Stromerzeugung in Form von Wind und Photovoltaik. Die reicht in manchen Zeiten bereits aus, um einen großen Teil der gesamten Nachfrage in Deutschland zu befriedigen. Deshalb gibt es schon jetzt Phasen, in denen die Grundlastkraftwerke gedrosselt werden müssen, weil ihr Strom nicht mehr benötigt wird.
ÖKO-TEST: Was bedeutet das für die Konzerne?
Leprich: Diese Entwicklung schlägt sich an der Strombörse nieder. Wir haben bereits eine Reihe von Zeitfenstern, in denen es über mehrere Stunden negative Börsenpreise gibt - an Wochenenden oder auch nachts, wenn besonders wenig Strom nachgefragt wird. Das bedeutet: Ich muss als Kraftwerksbetreiber Geld mitbringen, damit ich meinen Strom loswerde.
ÖKO-TEST: Jede neue Windkraftanlage ist für die Stromkonzerne also ein Verlustgeschäft?
Leprich: Ja. Je mehr wir erneuerbare Energiequellen nutzen, desto häufiger müssen die Konzerne ihrer Kraftwerke herunterfahren. Dadurch verlieren sie natürlich Geld. Insofern gibt es meiner Ansicht nach einen unvermeidlichen Systemkonflikt zwischen dem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien und dem Betrieb von Grundlastkraftwerken. Dieser Konflikt wird sich weiter zuspitzen.
ÖKO-TEST: Aber langfristig sind auch die Erneuerbaren wirtschaftlich interessant. Warum steuern die Konzerne nicht um?
Leprich: Das hat auch etwas mit ihrer Unternehmenskultur zu tun. Die Energiewirtschaft ist groß geworden mit großen Kraftwerken. Und diese Leute sind stolz auf das, was sie geschaffen haben: Riesige 800-Megawatt-Blöcke Kohle, 1.300 Megawatt-Blöcke Kernenergie. Das sind ja auch technische Meisterleistungen. Und dann kommen da plötzlich diese dezentralen Kleinanlagen, die gar nicht immer Strom produzieren können, weil der Wind eben nicht immer weht, und die Sonne nicht immer scheint. Das ist einfach nicht ihre Welt.
ÖKO-TEST: Was können die kleinen Stadtwerke besser?
Leprich: Bei den Stadtwerken war das Interesse an der Nutzung erneuerbarer Energien bisher auch nicht besonders groß. Aber mittlerweile fangen sie an umzudenken. Wenn sie an der Spitze kompetente und zupackende Leute haben, die auch überzeugte Klimaschützer sind, dann können Stadtwerke vor Ort eine ganze Menge bewegen.