Deutschland 2012: Der Ministerpräsident des Freistaats Bayern ist ein Ehebrecher. Der amtierende Bundespräsident lebt in wilder Ehe, sein Vorgänger in einer Patchworkfamilie. Anne Will, Mitglied der ersten Garde unter Deutschlands Talkmastern, bekennt sich offen zu ihrer Lebensgefährtin. Der Comedian Hape Kerkeling macht keinen Hehl daraus, dass er Männer liebt. Am Christopher Street Day im Juni finden in zahlreichen Städten Deutschlands jährlich große Straßenfeste und Paraden von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern statt. Hat die sexuelle Revolution ihr Ziel erreicht?
Tatsächlich zählt unser Land zur geringen Zahl von Staaten weltweit, die in ihrer Rechtsordnung ein hohes Maß an Toleranz gegenüber den sexuellen Vorlieben ihrer Bürger verankert haben. Das war nicht immer so. "In unserer Kultur wurden sexuelle Tabus besonders stark im 18. Jahrhundert errichtet", weiß der Nestor der deutschen Sexualwissenschaft, Professor Volkmar Sigusch. "Zu Goethes Lebzeiten hat es regelrechte Onaniekämpfe gegeben. Berühmte Forscher vertraten die Auffassung, man würde durch die Selbstbefriedigung verrückt." An staatlichen preußischen Schulen gab es im Jahr 1900 den ersten Aufklärungsunterricht. Darin ging es vorrangig um Sexualhygiene und sexuelle Abweichungen vom Normverhalten. Darunter verstand man unter anderem: vorehelichen Geschlechtsverkehr, Homosexualität und Selbstbefriedigung.
Zur Zeit der Weimarer Republik lockerte sich die rigide Sexualmoral; sie wurde unter den Nationalsozialisten aber sogleich wieder verschärft. Erst in den 60er-Jahren zeigten sich Risse in den fest gefügten Anschauungen. In Berlin wurde die legendäre Kommune I zum Symbol für die sexuelle Befreiung - mit Gemeinschaftsschlafsaal, Musik und Drogen. Ikone der Bewegung war das Münchener Fotomodell Uschi Obermaier, deren Affären - unter anderem mit Mick Jagger und Keith Richards von den Rolling Stones - Schlagzeilen machten. Die Revolte hatte Folgen: Die westdeutschen Bundesländer führten an ihren Schulen die Sexualerziehung ein. Nach und nach wurde auch die Rechtsprechung modernisiert.
Tabus bestehen weiter
Seit dem Aufbruch vor 50 Jahren hat sich einiges getan, dennoch sind auch in Deutschland längst nicht alle Tabus beseitigt. Im öffentlichen Diskurs werde heute sehr viel akzeptiert, von Sadomaso bis Voyeurismus, stellt Sexualwissenschaftler Sigusch fest. Beim realen Verhalten sehe das anders aus: "Zwar gilt Homosexualität als etabliert. Schauen Sie aber mal, was auf den Schulhöfen und Fußballplätzen abgeht, wie schnell einer als ‚schwule Sau' beschimpft wird."
Diese These wird durch die erregt geführte Debatte über schwule Fußballer im Jahr 2011 bestätigt. Philipp Lahm, Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, hatte homosexuellen Fußballern geraten, sich nicht zu ihrer Neigung zu bekennen. Dafür hagelte es Kritik von vielen Seiten, unter anderem vom Lesben- und Schwulenverband. Doch Gerd Liese...