Nach dem jüngsten atomaren Unfall in Japan ging auch in Deutschland die Diskussion wieder von vorne los: Wie sicher sind unsere Atomkraftwerke? Natürlich sind sie sicher, versicherte Bundeskanzlerin Angela Merkel erst einmal eilig, man werde sie aber noch einmal "ohne Tabus" überprüfen. Auch die Betreiber der deutschen AKWs - die großen Energiekonzerne RWE, Eon, Vattenfall und EnBW - bestreiten natürlich, dass sich ein solch schwerer Unfall hier ereignen könnte.
Doch es muss ja gar kein Erdbeben als Auslöser sein: Die Geschichte zeigt, dass alles Undenkbare Realität werden kann. Dass immer etwas passieren kann, womit keiner gerechnet hat. Atomkraft ist keine Technik, die fehlertolerant ist - hier kann eine Schlamperei oder eine Störung schnell zu unbeherrschbaren Reaktionen führen mit immensen, schier unvorstellbare Folgen für Menschen und Umwelt. Hinzu kommt, dass sieben der 17 deutschen Atommeiler deutlich älter als 30 Jahre sind und nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprechen.
Missverständnisse, Schlampereien, Bedienungsfehler, technische Störungen, unbemerkte Korrosionen, extreme Witterungsverhältnisse und vor wenigen Wochen eben ein Erdbeben mit anschließender Riesenwelle - all diese Faktoren haben in Atomkraftwerken schon zu schweren Pannen und Unglücken geführt. Es gibt nichts, was es nicht gibt - abgesehen von einer offiziellen Liste der atomaren Unfälle weltweit. Die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) in Wien hat zwar nach dem Tschernobyl-GAU eine internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse entwickelt (INES von engl. International Nuclear Event Scale), nach der seitdem alle Vorfälle in Atomanlagen von 0 bis 7 eingestuft und ab Schweregrad 2 an die IAEA gemeldet werden müssen. Auch Unfälle, die sich vor Tschernobyl ereigneten, wurden nachträglich mit der INES-Skala bewertet. Trotzdem sieht sich die IAEA außerstande, eine Auflistung der vergangenen Unfälle zu publizieren: Die Organisation veröffentliche keine zurückliegenden Informationen zu Einstufungen oder gar Statistiken, heißt es auf Anfrage. Nicht wirklich verwunderlich: Die IAEA hat die Aufgabe, die friedliche Nutzung der Kernenergie zu fördern. Und Stör- oder gar große Unfälle tragen nicht geradezur Akzeptanz der Atomkraft bei.
Die Fahrt von Kiew nach Tschernobyl gleicht auf den ersten Blick einer ganz normalen Fahrt aufs Land. Wiesen und Felder, Datschensiedlungen, größere Siedlungen, kleinere Dörfer in immer entfernteren Abständen. Doch dann, so erzählt Tobias Münchmeyer von Greenpeace, passiere etwas Seltsames. Es sei, als ob man eine unsichtbare Schallmauer durchstoße: "Es ist die Schallmauer der Zeit. Dahinter läuft die Zeit rückwärts: Nicht die Abfolge der Jahreszeiten gibt hier den Rhythmus vor, sondern die ablaufenden Halbwertzeiten der Radionukleide. Strontium, Cäsium, Plutonium. Wie eine Eieruhr, die gegen den Uhrzeigersinn Richtung null tickt, nur ist diese Null in Tschernobyl Tausende ...