Glimmermineral Mica: Kinderarbeit für ein bisschen Glitzer

Magazin Februar 2023: Vitamine | Autor: Marieke Mariani | Kategorie: Kosmetik und Mode | 12.02.2023

Das Glitzerpigment Mica wird unter anderem in Kosmetik und Autolackfarben eingesetzt
Foto: imago images/ZUMA Press

Das Mineral Mica bringt Lidschatten zum Glitzern und Autolack zum Glänzen. Das Problem: Gewonnen wird es in einigen Ländern unter widrigsten Arbeitsbedingungen und dem Einsatz von Kinderarbeit. Was können Unternehmen und Verbraucher dagegen tun?

  • Das Glitzermineral Mica wird unter anderem in Kosmetikprodukten, Autolacken und Elektroartikeln verwendet. 
  • Die Gewinnung des Pigments findet jedoch unter katastrophalen Arbeitsbedingungen statt. In einigen Ländern, darunter Indien und Madagaskar, werden zudem Kinder für die Arbeit in den Mica-Minen eingesetzt. 
  • Mit Gesetzen, Initiativen und der Enwicklung von Alternativen versuchen Politik, Unternehmen und Organisationen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen der Menschen auszuüben. 

Was haben Lidschatten, Lippenstift und Autolack gemeinsam? Ihren schimmernden, glänzenden Effekt verdanken sie dem mineralischen Pigment Mica. Unter den Bezeichnungen Mica, Glimmer oder der Color-Index-Nummer CI77019 sorgt es etwa in Autolacken und Kosmetikprodukten für den wortwörtlich schönen Schein, in Elektronikartikeln wird es aufgrund seiner isolierenden Eigenschaften verwendet. Auch in Baustoffen ist es enthalten.

Dass in Indien für seinen Abbau kleine Kinder in bis zu 20 Meter tiefen, selbstgegrabenen Schächten Knochenarbeit leisten, um das finanzielle Überleben ihrer Familien zu sichern, weiß in den Industrienationen kaum jemand. Die Jüngsten unter ihnen sind gerade einmal vier Jahre alt. Insgesamt schuften dem Kinderhilfswerk Terre des Hommes zufolge rund 30.000 Minderjährige in den illegalen Minen Jharkhands und des benachbarten Bihar.

Woher kommt das Mica in unseren Produkten?

Mica-Vorkommen gibt es in 35 Ländern der Welt, darunter Indien und Madagaskar, aber auch China und Brasilien. Auch in den Böden der USA, Kanadas, Russlands und Finnlands ist Mica zu finden. Menschenrechtsverletzungen und Kinderarbeit beim Abbau ließen sich laut Terre des Hommes in Indien und Madagaskar nachweisen; in einigen anderen Ländern seien sie nach aktuellem Stand zumindest nicht auszuschließen.

Großkonzerne beziehen ihr Mica häufig aus unterschiedlichen Quellen. Indien deckte im Jahr 2020 rund 30 Prozent des Weltmarkts ab. Der indischen Exportstatistik zufolge verlassen jährlich rund 150.000 Tonnen Mica das Land über den Hafen von Kalkutta. Woher diese Mengen stammen, bleibt unklar – die von offizieller Seite angegebenen Quellen in den Bundesstaaten Andhra Pradesh und Rajasthan könnten nicht einmal ein Viertel davon abdecken.

Das glitzernde Mineral Mica muss mühselig aus der Erde gewonnen werden.
Das glitzernde Mineral Mica muss mühselig aus der Erde gewonnen werden. (Foto: MohamedHaddad/Shutterstock)

Mica wird in stillgelegten Minen geschürft

Bis in die 1980er-Jahre gab es in Nordostindien legalen Mica-Abbau, doch aufgrund von Waldschutzmaßnahmen im Rahmen des Forest Conservation Act wurde der Bergbau schließlich verboten, die Minen offiziell stillgelegt. Die alten Schächte werden dennoch bis heute weitergenutzt – von Menschen, die dort auf eigene Faust Mica schürfen und die Minengänge händisch mit einfachsten Mitteln erweitern und vergrößern.

Ohne offiziellen Auftrag, ohne Sicherungsmaßnahmen, ohne Schutz. Eine Vertical-52-Datenanalyse von Satellitenbildern im Auftrag von Zeit Online und der Heinrich-Böll-Stiftung zeigte vergangenes Jahr, dass sich im Gebiet der alten Minen die gerodete Fläche im Vergleich zu 2016 teils mehr als verdreifacht hat.

Mica-Abbau: Gefährliche Arbeitsbedingungen und kaum Verdienst

Die Einsturzgefahr ist der ständige Begleiter der Menschen, die Tag für Tag in die Erdlöcher steigen, um nach Glimmer zu schürfen. Die Überlebenswahrscheinlichkeit ist gering, wenn einer der ungesicherten Gänge in sich zusammenbricht. Und dennoch setzen dort täglich Frauen, Männer und Kinder ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Zukunft aufs Spiel. Sie haben keine Wahl. Die Bevölkerung in diesen Regionen ist bitterarm – andere, auskömmliche Arbeit gibt es nicht.

Doch selbst wenn die ganze Familie in den Mica-Minen schuftet, bleibt am Ende des Tages kaum genug, um den Hunger zu stillen. Für wenige Cent pro Kilogramm, bestenfalls 120 bis 300 Rupien (umgerechnet 1,44 bis 3,60 Euro) am Tag, verkaufen die Menschen ihre Tageserträge an Ankäufer vor Ort weiter, die das Mica anschließend über zwei bis drei weitere Zwischenhändler in den Weltmarkt schleusen.

Der spärliche Verdienst reicht kaum zum Überleben, die Familien erreichen damit nicht einmal die Armutsgrenze, die bei 1,90 Dollar pro Tag und Person liegt. Die Händler diktieren die Preise, die Menschen sind ihrer Willkür ausgeliefert. In der Coronapandemie hat sich der Preisdruck zusätzlich verschärft.

Ein Mädchen sucht in einer Mine in Jharkhand nach Mica.
Ein Mädchen sucht in einer Mine in Jharkhand nach Mica. (Foto: picture alliance / REUTERS)

Lieferketten von Mica sind häufig nicht nachverfolgbar

Die vielen verschiedenen Zwischenstationen des Mica-Handels sind Teil einer perfiden Verschleierungsstrategie, durch die am Ende niemand mehr die Lieferkette zurückverfolgen kann. Weder die Hilfsorganisationen noch die Mica importierenden Unternehmen sind so noch in der Lage, Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen sicher auszuschließen.

Die örtlichen Behörden und die Politik schauen weg, obwohl die Arbeit im Bergbau per Definition zu den schlimmsten Formen der Kinderarbeit gehört und in allen Staaten der Welt verboten ist – auch in Indien.

Da die Minen jedoch den offiziellen Angaben der Regierungen von Jharkhand und Bihar zufolge überhaupt nicht existieren, gibt es kaum eine Handhabe gegen diese eindeutigen Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt: "Weil das Schürfen illegal ist, gibt es viel Korruption", weiß Barbara Küppers, Kinderrechtsexpertin bei Terre des Hommes Deutschland. 

Das gilt vor allem für die Polizei. Viele Politiker der Region haben kein Interesse, die Situation zu klären, und versuchen, kritische Stimmen zu unterdrücken. Menschenrechtsorganisationen, aber auch Medien, die auf die Missstände vor Ort aufmerksam machen wollen, können sich nicht auf staatlichen Schutz verlassen. Im Gegenteil: Journalisten aus dem Ausland erhalten keine Visa, die Geheimpolizei ist allgegenwärtig, Hilfsprojekten könnte die Arbeit verboten werden.

Neues Lieferkettengesetz soll für mehr Transparenz sorgen

Deswegen werde Terre des Hommes  im Moment zu Mica keine Beschwerde gegen ein Unternehmen nach dem neuen deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz vorbringen, das am 1. Januar in Kraft getreten ist, erläutert Küppers.

Das Gesetz fordert von deutschen Unternehmen, "regelmäßig im eigenen Geschäftsbereich und beim unmittelbaren Zulieferer sowie anlassbezogen auch in der tieferen Lieferkette" eine Risikoanalyse durchzuführen, ob Menschenrechtsverletzungen wie Kinderarbeit bestehen, und dies jährlich in Form eines Berichts zu belegen, wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) auf unsere Nachfrage mitteilte. Für die Kontrolle ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig.

Bei Verstößen drohen hohe Strafzahlungen in bis zu dreistelliger Millionenhöhe sowie der Entzug öffentlicher Aufträge. Damit bestünde auch für Organisationen wie Terre des Hommes die Möglichkeit, bei einem begründeten Verdacht Beschwerde beim BAFA einzureichen.

Doch zum einen wäre der zu erwartende Erfolg ohnehin ungewiss: "Die Lieferkette ist so intransparent, dass man gar keine konkreten Informationen zu einem Unternehmen beim BAFA vorbringen könnte", sagt Kinderrechtsexpertin Küppers.

Zum anderen droht die Gefahr, dass die indische Regierung Hilfsprojekte stoppen könnte. Dennoch beobachtet Terre des Hommes aufgrund des neuen Lieferkettengesetzes bereits positive Effekte, vor allem in anderen Bereichen wie der Textilbranche: "Es gibt vermehrt Anfragen, die Unternehmen sind aktiver denn je, um ihre Lieferketten in den Griff zu bekommen. Ob das bei den Kindern in den Mica-Minen ankommt, sehen wir aber erst frühestens in zwei bis drei Jahren."

Mica-Abbau: Initiative will Arbeitsbedingungen verbessern

Bemühungen um menschenwürdige Arbeitsbedingungen und gegen Kinderarbeit gibt es jedoch durchaus bereits. 2017 haben sich Unternehmen aus Mica verarbeitenden Branchen mit dem Ziel einer fairen und nachhaltigen Lieferkette ohne Kinderarbeit zur Responsible Mica Initiative (RMI) zusammengeschlossen. Zunächst lag der Fokus dabei auf Madagaskar, 2019 kam Indien hinzu. In beiden Ländern sind Kinderarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne ein Problem.

Zu den Mitgliedern der RMI zählen deutsche Schwergewichte wie BASF und Merck sowie mehrere große Automobilhersteller. Kosmetikfirmen wie L’Oreal, Chanel, Coty und Cosnova sind ebenfalls dabei. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte auch der niederländische Zweig von Terre des Hommes, inzwischen ist Terre des Hommes Deutschland ebenfalls im Boot. Gemeinsam engagieren sich die derzeit mehr als 80 Akteure vor Ort unter anderem für Hilfsprojekte, insbesondere um Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. 

Die Responsible Mica Initiative setzt sich für eine Mica-Lieferkette ohne Kinderarbeit ein.
Die Responsible Mica Initiative setzt sich für eine Mica-Lieferkette ohne Kinderarbeit ein. (Foto: singh_lens/Shutterstock)

"Die Erfahrung zeigt: Wenn die Kinder in die Schule gehen und dort ein kostenloses Mittagessen bekommen, entlastet auch das die Familien", so Küppers. So entkommen die Kinder den Mica-Minen, ohne dass die Familie dadurch finanzielle Einbußen hat. Darüber hinaus können die Menschen nur mit Bildung langfristig den Kreislauf aus Armut, Hunger und illegaler Arbeit durchbrechen.

Alternativen oder Boykott: Wie umgehen mit der Mica-Problematik?

Alternative Ansätze verfolgen manche Kosmetikhersteller wie Lush, die mit synthetisch hergestelltem Mica – Synthetic Fluorphlogopite – arbeiten. Sogar in von Natrue zertifizierter Naturkosmetik ist es erlaubt. Es kann natürliches Mica ersetzen, ist aber für die Hersteller potenziell teurer im Einkauf. Auch natürliches Mica aus Nordamerika oder Finnland ist menschenrechtlich unproblematisch.

Doch was bedeutet das nun für die Endverbraucher? Auf Kosmetikprodukten müssen die Hersteller natürliches Mica zwar ausloben  – woher es stammt, erkennt man anhand der Zutatenliste (INCI) jedoch nicht. Sollten wir diese Produkte also lieber im Regal stehen lassen, um der Kinderarbeit in Indien keinen Vorschub zu leisten? So einfach ist es leider nicht.

"Wir bitten ausdrücklich darum, Produkte mit Mica nicht zu boykottieren. Wir wollen, dass sich die Situation grundlegend ändert, nicht dass der Abbau plötzlich komplett aufhört. Denn dann verlieren die Menschen auf einen Schlag ihre einzige Einkommensquelle, und es wird für sie noch schwieriger. Die Kinder brauchen Alternativen."

Kinderrechtsexpertin Küppers fordert Verbraucherinnen und Verbraucher deshalb auf, sich für Hilfsprojekte einzusetzen, auf das Problem aufmerksam zu machen und sich direkt an die Unternehmen zu wenden, die Mica in ihren Produkten verwenden. "Entwicklungsarbeit dauert immer ein bisschen", sagt sie. Es braucht einen langen Atem und viel Beharrlichkeit, um strukturelle Probleme zu lösen.

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