Artensterben: Ohne Mücken gibt es keinen Kakao

Interview mit Öko-System-Forscherin Judith Reise

Magazin Dezember 2024: Bitterschokolade | Autor: Sven Heitkamp | Kategorie: Freizeit und Technik | 15.12.2024

Eisbären sind vom Aussterben bedroht.
Foto: Jiri Hera/Shutterstock

Das Artensterben ist für die Menschheit nicht weniger bedrohlich als die Klimakrise. Ohne Biodiversität sind ganze Nahrungsketten gefährdet – selbst unsere Lieblingsspeisen, erklärt Öko-System-Forscherin Judith Reise.

Jeden Tag verschwinden Tier- und Pflanzenarten unwiderruflich, berichtet der Weltbiodiversitätsrat. Doch während die Gefahren des Klimawandels den meisten Menschen bewusst sind, ist das weniger bekannt. Zu unrecht: Mit jeder verlorenen Art gerät das empfindliche Gleichgewicht der Natur weiter ins Wanken.

Was sind die Ursachen für das Artensterben und wie können wir handeln, bevor es zu spät ist? Im Interview gibt Judith Reise Antworten. Die Forscherin für Energie und Klimaschutz am Öko-Institut in Berlin befasst sich mit Waldökologie und Maßnahmen des natürlichen Klima- und Biodiversitätsschutzes.

Ihr neuer Podcast lautet: Ohne Mücken kein Kakao. Das müssen Sie bitte erklären!

Judith Reise: Das Zusammenspiel dieser beiden Arten ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung der Biodiversität. Ausgerechnet die von vielen gehasste Mücke ist existenziell für unsere geliebte Schokolade. Die winzigen Blüten des Kakaobaums, die direkt am Stamm wachsen, müssen von sehr kleinen Insekten bestäubt werden, damit aus der Kakaoblüte eine reife Kakaoschote wird.

Neben sehr kleinen Fliegen- und Ameisenarten gehören dazu auch die Gall- und Bartmücken. Ohne sie gäbe es vielleicht irgendwann keine Schokolade mehr.

Ist der Kakaoanbau schon akut bedroht?

Reise: Voriges Jahr kam es bereits in wichtigen Kakaoanbaugebieten Westafrikas durch eine starke Dürre zu hohen Ausfällen. Das kann immer wieder passieren und sich weiter verschärfen. Außerdem steigt der Kakaokonsum durch die wachsende Nachfrage etwa in China, Indien und Brasilien deutlich.

Um die Erträge zu optimieren, entstehen immer mehr Monokulturen auf dem Kakaogürtel rings um den Erdball. Immer mehr Tropenwälder werden abgeholzt, Pestizide und Dünger eingesetzt, die heimischen Tier- und Pflanzenarten verlieren ihren Lebensraum.

Dabei gibt es zu den intensiven Kakaomonokulturen sehr gute Alternativen. Vielschichtige Agroforstsysteme, in denen beispielsweise Bananenpflanzen den Kakaopflanzen Schatten spenden, können wertvolle Beiträge für den Anbau und die Biodiversität leisten. Und in einem insektenfreundlichen Kakaoanbau funktioniert auch die Bestäubung deutlich besser!

Ist der Kakao ein Sonderfall?

Reise: Nein, das Grundprinzip der Biodiversität ist bei vielen Nutzpflanzen, die wir für unsere Ernährung und auch medizinische Versorgung einsetzen, gleich. Man braucht nur an Bodenpilze zu denken, die mit Wurzeln von Ackerkulturen, Obst und Gemüse in Symbiose leben und sich gegenseitig bei der Aufnahme von Wasser und Nährstoffen helfen.

Und wenn das Wechselspiel der Arten ausfällt?

Reise: Dann kann es gefährlich werden. Negativbeispiel ist die Geschichte der Geier in Indien. Dort hat man in den 2000er-Jahren ein neues Medikament an Weidetiere verfüttert. Das Präparat lagerte sich im Fleisch der Weidetiere ab und war für Geier, die tote Weidetiere gegessen hatten, tödlich. Die einstmals große Geierpopulation in Südostasien wäre daran fast zerbrochen.

Die Effekte für die Öko-Systeme und die Menschen waren gravierend. Denn statt der Aasgeier fraßen nun verwilderte Hunde und Katzen von den Kadavern der Weidetiere und trugen Krankheitserreger in die Siedlungen. Dadurch haben sich bei den Menschen auf dem Land Infektionskrankheiten ausgebreitet – und man hat gesehen, welche zentrale Rolle die Geier im Öko-System als Reinigungspolizei spielen.

Letztlich wurde mit enormem finanziellem Aufwand die Geierpopulation wieder stabilisiert, in dem man ihnen tote, nicht mit dem Medikament behandelte Weidetiere zum Fraß überlassen hat. Aber die Kosten für den Wiederaufbau einer gesunden Population sind viel höher, als das Zusammenbrechen einer Population von vornherein zu vermeiden.

Öko-System-Forscherin Judith Reise warnt vor den Auswirkungen des Artensterbens.
Öko-System-Forscherin Judith Reise warnt vor den Auswirkungen des Artensterbens. (Foto: Öko-Institut)

In der öffentlichen Debatte steht die Klimakrise im Vordergrund, nicht das Artensterben. Zu Recht?

Reise: Die Lage ist eigentlich ebenso alarmierend wie beim Klimawandel. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES ging schon 2019 davon aus, dass etwa eine Million von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind. Dazu gehören global so prominente Arten wie der Schneeleopard, Tiger, Eisbären und einige Meeresschildkröten-Arten.

Und das gilt auch hierzulande?

Reise: In Deutschland sind Arten wie der Feldhamster, Luchse, Fledermaus-Arten und viele Tiere, die auf Moore, Auen und andere Feuchtgebiete angewiesen sind, bedroht, wie der Große Brachvogel oder der Moorfrosch. 35 Prozent unseres einheimischen Tierartenbestandes ist besonders gefährdet, bei den Pflanzen sind es 31 Prozent.

Vom Insektensterben ganz zu schweigen: Die Krefelder Studie von 2017 hat gezeigt, dass die Biomasse der Insekten zwischen 1989 und 2016 um mindestens 76 Prozent zurückgegangen ist. In Schutzgebieten wohlgemerkt! Daran sieht man, dass die Landnutzung in Deutschland nicht insektenfreundlich ist.

Aber man vergisst, dass es nicht nur Bienen sind, die die heimischen Kulturpflanzen bestäuben, sondern auch Schmetterlinge, Motten und Fliegenarten. Auch die Vogelbestände sind in den vergangenen 25 Jahren um ein Drittel zurückgegangen. Es gibt viel weniger Feldlerchen als noch vor 30 Jahren und viel weniger Kiebitze, die früher in den Feuchtwiesen Norddeutschlands zu Hause waren.

(Foto: ÖKO-TEST)

Massenhaftes Artensterben kommt schon seit dem Verschwinden der Dinosaurier vor. Damals sollen mehr als die Hälfte aller Pflanzen- und Tierarten verschwunden sein. Was unterscheidet das heutige Artensterben davon?

Reise: Artensterben hat es in der Tat schon immer gegeben. Schwankungen in der Anzahl der Arten kann man über die geologischen Zeiträume mitverfolgen. Nach einem massiven Einbruch folgte aber meist wieder ein schneller Anstieg.

In den vergangenen 100 Jahren sehen wir aber eine Geschwindigkeit und eine Größenordnung des Artenrückgangs, wie er in bisherigen geologischen Zeitaltern nicht gemessen wurde. Und diesmal ist er von Menschen gemacht und betrifft uns Menschen elementar. Wir sägen am Ast, auf dem wir sitzen. Denn wir sind ein Teil des Gefüges und der Nahrungskette, die wir zerstören. Nicht nur bei der Schokolade.

Worin sehen Sie die Haupttreiber des Artensterbens?

Reise: Die Hauptverursacher sind ohne Frage die Land- und Meeresnutzung sowie die Landnutzungsänderungen. Das zeigen auch die Berichte des Weltbiodiversitätsrates. Zu den Treibern gehört vor allem die Art, wie sich unsere Landnutzung entwickelt hat: die Intensität, in der wir Kulturen anbauen, die Sorten, die Abfolge und der Einsatz von Pestiziden.

In Deutschland werden heute rund 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche gebraucht, um Nutztiere zu ernähren. Dabei entsteht viel Gülle, es werden Pestizide eingesetzt, um das System am Laufen zu halten – obwohl es der Natur in dieser Intensität offensichtlich schadet. Es ist ja durchaus intelligent, Öko-Systeme für sich zu nutzen. Aber man darf den Bogen eben nicht überspannen. Genau das tun wir jedoch seit einigen Jahrzehnten.

Und was sind globale Ursachen der Biodiversitätskrise?

Reise: Auch weltweit spielen die Land- und Meeresnutzung und vor allem die Landnutzungsänderung die größte Rolle: Wo vorher Wald war, sind auf vielen Millionen Hektar landwirtschaftliche Flächen, Weiden und Aquakulturen entstanden. Diese Veränderungen haben zu einem enormen Waldsterben geführt. Das ist ein Riesenproblem für die Biodiversität.

Hinzu kommt der Eintrag von giftigen Stoffen in die Umwelt, wie Plastik und Pestizide, Luftverschmutzung, die Ausbreitung von Siedlungsflächen und Zerschneidung von Lebensräumen. All das sind Effekte, die den Lebensraum von Arten verkleinern und degradieren und sie dadurch gefährden.

Welche Rolle spielt die Klimakrise?

Reise: Klimawandel und Artensterben bedingen sich gegenseitig. Der Klimawandel verschärft den Stress für die Öko-Systeme und einzelne Arten, wenn es beispielsweise häufiger Dürren oder Starkregenereignisse gibt. Der Verlust von Wäldern und das Trockenlegen von Mooren verschärft wiederum den Klimawandel.

Ein Beispiel sehen wir zurzeit am Brocken im Harz: Wo jahrzehntelang Fichten wuchsen, sehen wir jetzt riesige Kahlflächen und tote Bäume … Dazu ist es lehrreich, die Geschichte zu kennen. Die Harzregion war nach dem Zweiten Weltkrieg fast entwaldet, nicht zuletzt durch Reparationsforderungen der Alliierten. Sie haben nach 1945 sehr viel Holz mitgenommen. Danach hat man in der Not im großen Stil Fichten nachgepflanzt, obwohl die Bäume eigentlich ins nördlichere Europa und in höhere Berglagen gehören.

Das ist Jahrzehnte gut gegangen, die Fichte war der Brotbaum der Forstwirtschaft. Dass die Monokulturen problematisch sind und man die Wälder in Mischwälder umbauen sollte wusste man. Aber das ist leider viel zu langsam geschehen.

Jetzt hatten die Borkenkäfer infolge der warmen Temperaturen und der Trockenheit leichtes Spiel und haben den Waldumbau innerhalb von zwei, drei Jahren vorangetrieben. Diese Katastrophe ist aber auch eine Chance. Der Wald kann sich wieder erholen. Wenn wir dem Prozess Zeit geben, stellt sich unter guten Bedingungen eine viel größerer biologischer Vielfalt ein.

Was muss sich ändern?

Reise: In der Pflicht ist vor allen Dingen die Politik, national und international. Das Renaturierungsgesetz der EU, das kürzlich mit Ach und Krach und vielen Einschränkungen verabschiedet wurde, muss jetzt schnellstmöglich in den EU-Ländern auf den Weg gebracht werden. Es geht darum, die Wiederherstellung von stark geschädigten Öko-Systemen in Europa bis 2030 ernsthaft einzuleiten und umzusetzen.

Die Regierungen müssen zügig nationale Pläne ausarbeiten und finanzieren. Parallel dazu muss die EU schädliche Subventionen umstellen, die dafür sorgen, dass Klimawandel und Biodiversitätsverlust noch angeheizt werden. Die Agrarpolitik muss umdenken und die Milliarden, die wir jedes Jahr in die Landwirtschaft investieren, umlenken in eine Landwirtschaft, die Lebensmittel produziert und gleichzeitig Biodiversität und Artenschutz fördert.

Bäuerinnen und Bauern in Europa muss es möglich sein, in den ökologischen Grenzen, die ihnen die Lebensräume bieten, Landwirtschaft auskömmlich zu betreiben. Allein die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flugreisen und für Kerosin ist doch ein Wahnsinn!

Fichten sterben aus.
Fichten sterben aus. (Foto: Christoph Bunte/Shutterstock)

Ist die Biodiversität noch zu retten?

Reise: Ja, das würde ich sagen. Beispiele wie im Bayerischen Wald zeigen, dass sich Natur sehr gut erholen kann. In Berlin-Marzahn, wo ich aufgewachsen bin, hat man die begradigte, einbetonierte Wuhle renaturiert und den alten Flusslauf wiederhergestellt. Da ist ein kleiner Auenwald entstanden, der zeigt was möglich ist.

Was kann man selbst tun?

Reise: Einzelpersonen für die große Biodiversitätskrise in Haft zu nehmen, ist nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit. Aber wer nicht nur auf die Politik warten will, kann regionale Projekte unterstützen und sich an einer solidarischen Landwirtschaft beteiligen. Man kann seinen Garten vielseitiger gestalten und Wildblumen säen, die die Insektenvielfalt fördern.

Man kann sich generell mehr in der Natur aufhalten und sich mit seiner Umgebung befassen, ökologisch einkaufen, weniger Fleisch essen und politisch aktiv sein. Politik ändert sich nur, wenn die Gesellschaft laut wird. Ich bin überzeugt: wenn es Fridays for Future nicht gegeben hätte, hätten wir den europäischen Green Deal nie bekommen.

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