Die Zahl der Anbieter von Selbstbehauptungskursen ist in den vergangenen Jahren rasant nach oben geschnellt. Eine Ursache: Die Fülle an Medienberichten über Gewaltdelikte an Kindern.
Legt man offizielle Statistiken zugrunde, dann ist allerdings die Gefahr, dass ein Kind Opfer von Gewalt durch einen Fremden wird, deutlich geringer als die Gefahr, die durch Übergriffe aus dem sozialen Umfeld droht. Nachbarn, Verwandte, Trainer, die Enthüllungen über die Übergriffe hinter Kirchen- und Internatsmauern - Eltern haben zunehmend das Gefühl, dass ihre Kinder nirgendwo mehr "sicher" sind. Psychologen sehen diese Entwicklung mit Besorgnis. Denn einerseits ist es wichtig, sein Kind aufzuklären und vor entsprechenden Gefahren zu warnen.
Doch andererseits entsteht aus der Angst auch die Tendenz, seine Kinder zu sehr zu behüten, sie praktisch nicht mehr unbegleitet in die Öffentlichkeit zu lassen. Dadurch wird es Kindern schwerer gemacht, selbstsicher zu werden und ein Gespür für echte Gefahren zu bekommen. Das Fatale: Überbehütete Kinder werden sogar schneller zum Opfer als solche, die gelernt haben, auf sich selbst zu achten.
Kinder stark machen
Doch Eltern, die ihr Kind in einen Selbstbehauptungskurs schicken, haben noch ein weiteres Problem vor Augen: Die Übergriffe von Rüpeln auf dem Schulhof und das Mobbing, dem sowohl jüngere als auch ältere Kinder ausgesetzt sein können. Die Kids sollen lernen, solche Situationen zu erkennen - und sich gezielt zur Wehr zu setzen.
Die Anbieter von Selbstbehauptungskursen versprechen nun, Kinder für die vielfältigen Alltagssituationen stark zu machen und ihnen ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln. In den Kursen sollen Kinder auf kritische Situationen vorbereitet und für Gefahren sensibilisiert werden - egal wo diese herkommen: von Fremden, bekannten Erwachsenen oder anderen Kindern und Jugendlichen. Die Kids sollen lernen, dass sie das Recht haben, deutliche Grenzen zu ziehen und ihre eigenen Bedürfnisse klar zu äußern, sei es gegenüber dem rüpeligen Mitschüler oder der Tante, die immer Küsschen geben will, obwohl das Kind das gar nicht möchte.
Eltern werden von ihrer Verantwortung aber nicht entlastet, nur weil ihre Kinder einen Selbstbehauptungskurs besuchen. In einem Informationsgespräch mit den Kursleitern müssen den Eltern deshalb auch die Grenzen eines solchen Trainings klar gemacht werden: Selbstbehauptungskurse können keine Sicherheit versprechen. Kinder sind Erwachsenen immer unterlegen und diese tragen die Verantwortung und nicht das Kind, das sich (vielleicht trotz des Trainings) "falsch" verhält. Zudem kann niemand in wenigen Stunden aus einem schüchternen ein selbstbewusstes, abwehrbereites Kind machen. Das heißt: Die Kurse ersetzen nicht die Präventionsarbeit von Eltern und Schule, sie unterstützen und ergänzen sie nur.
Markt heiß umkämpft
Wer möchte, dass sein Kind selbstbewusst und abwehrbereit ist, muss außerdem verstehen und billigen, dass der Nachwuchs den Widerstand auch in der Familie üben wollen wird. Wer zu Hause keine Widerrede und nur Gehorsam duldet, kann nicht erwarten, dass sich sein Kind anderen gegenüber zur Wehr setzt. Dass Eltern gegenüber ihren Kindern nicht handgreiflich werden, versteht sich von selbst.
Nicht zuletzt: Ein schlechter Kurs kann einem Kind (und dessen Eltern) mehr Angst machen, als vorher da war und die Kinder mit großem Schrecken zurücklassen. "Der Markt ist heiß umkämpft", weiß Birgit Horlaender von der Präventionsstelle des Landeskriminalamts Baden-Württemberg. Viele Anbieter kommen aus dem Bereich der Kampfsportarten, andere verkaufen ihr Kurskonzept bundesweit als Kurz-Fortbildungsmaßnahme an Kursleiter ohne entsprechende Vorbildung aus dem pädagogischen Bereich. Um Eltern eine Hilfe bei der Suche nach einem seriösen Anbieter zu geben, haben die Beratungsstellen der Bundeskriminalämter und der Deutsche Kinderschutzbund deshalb Empfehlungen erarbeitet (siehe unsere Checkliste).
Kein Küsschen auf Kommando
Wie Kinder lernen, sich aus unangenehmen Situationen herauszuziehen
Susanne Hellwig hält den Geschwistern zwei Handys hin. "Da schaut mal, was ich euch mitgebracht habe, na dafür bekomme ich aber jetzt ein Küsschen." Die Trainerin geht einen Schritt auf Robin und Nike zu, macht eine ausladende Umarmbewegung. Robin duckt sich weg, laut sagt er "Nöö". Auch seine Schwester geht einen Schritt zurück, hebt den Arm und hält so die "Tante" auf Abstand. Kein Küsschen auf Kommando. Die "Tante", die die süßen Kinder so gern mal knuddeln möchte, macht rollengemäß ein trauriges Gesicht, akzeptiert dann aber das Veto der Kinder.
So muss es sein. Kinder sind keine niedlichen Plüschtiere, auch wohlmeinende Erwachsene sollten die persönlichen Grenzen von Kindern respektieren und diese müssen lernen, ihre Grenzen deutlich zu signalisieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verteidigen.
Wie das geht, lernen sie im Selbstbehauptungskurs von Susanne Hellwig und Cotrainer Michael Röder. Das Rollenspiel "Kein Küsschen auf Kommando" gehört zu einem Schwerpunkt im Programm. Denn die Selbstbehauptung fängt zu Hause an.
Den Löwen wecken
Die Kinder lernen erst einmal Grundsätzliches. Was drückt mein Körper aus, wie sehe ich eingeschüchtert und schwach aus, wie abwehrbereit und nicht so leicht zu haben? "Den Löwen in sich wecken" ist eine wichtige Übung des Programms "Selbst Sicher und Stark" des Trainerteams aus Eltville am Rhein. Luft holen, sich groß machen und dann brüllen und böse gucken, die Hände sind in die Hüften gestützt. "Stopp" und "hau ab!" schreien die Kinder immer wieder aus vollem Hals. Pädagogin Hellwig weiß aus mehr als zwei Jahrzehnten Erfahrung mit Selbstverteidigung: Brüllen allein hat schon viele Angreifer in die Flucht geschlagen.
Und was mache ich, wenn jemand zu nah an mich rankommt? Trainer Michael Röder und Chantal spielen es vor. "Du hast aber schöne Haare", sagt Röder freundlich, stellt sich nah an das Mädchen und will ihr über den Kopf streicheln. Die Zehnjährige weicht zurück, streckt abwehrend den Arm aus und sagt lautstark, sodass es im Ernstfall möglichst viele ringsherum hören könnten: "Lassen Sie mich in Ruhe." Dann dreht sie sich blitzschnell um und rennt weg. Und wenn so was im Bus passiert und man nicht weglaufen kann? Die Kinder überlegen. "Zum Busfahrer gehen", schlägt Chantal vor. "Einen anderen Erwachsenen fragen, ob man sich zu ihm setzen kann", meint der neunjährige Keenan. Röder nickt und lobt die Kinder, Botschaft angekommen.
Sich rechtzeitig Hilfe zu holen, ist ein Grundprinzip des Kurses. Michael Röder geht auf Robin zu und hält ihm einen Geldschein hin: "Kannst du mir mal helfen, ich brauche Wechselgeld?" "Frag einen Erwachsenen", sagt der Neunjährige und geht sofort auf Abstand. Genauso kann man sich verhalten, wenn jemand aus dem Auto nach dem Weg fragt, lernen die Kinder. Nicht so dicht an der Autotür stehen, im Zweifel schnell wegrennen und einen Erwachsenen herbeiholen.
Dem Bauch vertrauen
Und wenn der im Auto ganz nett und harmlos ist und sich wirklich nur verfahren hat? Ist das dann nicht total unhöflich, und Kinder sollen doch höflich sein? "Was glaubt ihr macht der, wenn ihr weglauft und jemanden holt?", fragt Susanne Hellwig. Die Kinder überlegen miteinander und sind sich schnell einig: "Wenn er was Böses will, haut er ab - und wenn nicht, dann ist er noch da, wenn ich mit dem Erwachsenen zurückkomme." Richtig.
Sich schnell aus einer brenzligen Situation herauszuziehen, das üben Susanne Hellwig und Michael Röder mit ihren Kursteilnehmern in verschiedenen Varianten immer wieder. Es ist die Grundstrategie, sie soll sitzen und auch dann abrufbar sein, wenn die Kinder in der realen Situation zu aufgeregt sind, um nachzudenken, was sie da neulich gelernt haben. Hellwig weiß aus vielen Jahren Trainerarbeit, dass Kinder manchmal anstatt wegzulaufen wie gebannt stehen bleiben und schlaue Antworten geben wollen. Zum Beispiel auf die viel bemühte Falle: "Deine Mutter ist im Krankenhaus, soll ich dich hinbringen?" Der Täter will das Kind erschrecken, verwirren und so in ein Gespräch ziehen, um ihm nahe (genug) zu kommen. Deshalb ist es wichtig, dass sich das Kind quasi reflexhaft erst einmal zurück- und aus der Situation herauszieht, auch wenn es mal den falschen, harmlosen Frager trifft.
Die Kinder müssen darin bestärkt werden, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Das ist das Credo von Susanne Hellwig. Die meisten spürten sehr wohl, wenn an einer Situation etwas nicht in Ordnung sei, weiß die Trainerin aus ihrer Arbeit mit vielen Kindern.
Ein anderes Rollenspiel, das dem Alltag der Kinder näher ist als der Fremde, der sie in böser Absicht anspricht, üben Robin und Keenan mit Susanne Hellwig. Der groß gewachsene Keenan spielt den Bösen, den älteren Mitschüler, der mit finsterem Blick auf dem schmalen Gehweg entlangschlurft. Er hat schlechte Laune und sucht Streit, einen Jüngeren anrempeln käme ihm gerade gelegen, eine klassische Schulwegsituation.
Den Konflikt meiden
Robin ist einen halben Kopf kleiner und muss an Keenan vorbei. Auweia, was soll er tun, ausweichen geht nicht? Susanne Hellwig macht den Angsthasen vor, schleicht geduckt an Keenan vorbei, guckt verkrampft zu Boden. Ob das gut geht? Bestimmt nicht, meinen die Kinder und Robin probiert aus, was sie sich zusammen überlegt haben. Aufrecht, den Blick auf Keenan, sagt er fröhlich "Hallo" und läuft dann zügig an dem Großen vorbei. Den Konflikt meiden, schnell aus der Gefahrenzone raus, aber nicht zeigen, dass man Angst hat.
Dass auch ein Kind durchaus Kräfte hat, zeigt Susanne Hellwig den Kindern schließlich mit einem kleinen Experiment. Die Kinder legen kleine Sperrholzbretter auf zwei Backsteine. Mit einem lauten Schrei hauen sie das Holz mit dem Fuß entzwei. Die siebenjährige Nike staunt und hält stolz ihre zwei Bretterteile in der Hand. Wenn sie mal wieder jemand von den Großen in den Schwitzkasten nimmt, weiß sie jetzt, dass auch ein kleines Mädchen schon ganz ordentlich zutreten kann.
Checkliste
Der passende Kurs
Gruppengröße? Sind zwei Trainer dabei, ist eine Gruppengröße von 16 Kindern kein Problem, bei einem sind acht bis zwölf in Ordnung.
Das Kursprogramm muss auf das Alter der Kinder abgestimmt sein. Mit älteren Kindern sprechen Trainer in der Regel auch über Missbrauch, außerdem bekommen sie einige kleine Verteidigungskniffe an die Hand.
Jungen und Mädchen? Je nach Alter und Konzeption kann eine Differenzierung nach Geschlecht sinnvoll sein, sie ist aber nicht zwangsläufig eine Bedingung für einen guten Kurs.
Wann? Ab dem Vorschulalter bis zur fünften oder sechsten Klasse - bis an die Pubertät. Nach der Pubertät beginnen manche Jugendliche mit Kampfsport.
Wie oft? Manche Anbieter haben Wochenendkurse im Programm, andere verteilen ihren Stoff auf wöchentliche Treffen. Insgesamt sollte ein Kurs acht bis zehn Stunden dauern.
Information und Austausch? Zu Beginn sollte eine ausführliche, offene Information der Kinder über Konzept, Ablauf und Ziele des Kurses stehen. Eltern sollten in einem separaten Gespräch ebenfalls über Sinn, Möglichkeiten und Grenzen eines Kurses unterrichtet werden.
Kein Test! Am Ende des Kurses darf keine Prüfung stehen, bei der das Kind unter Umständen "versagen" kann.
Rollenspiele sind nur in einem geschützten, bekannten Raum und mit den Trainern, die die Kinder kennen, sinnvoll.
Körperkontakt? Übungen mit Körperkontakt zum Trainer oder anderen Kindern sollten immer freiwillig sein.
Ausbildung der Trainer? Ein ausschließlich kampfsportlicher Hintergrund, ist nicht sinnvoll. Die Trainer sollten über fundierte pädagogische Kenntnisse und Erfahrung mit Kindern verfügen und auch mit möglichen Gewalterfahrungen der Kinder kompetent umgehen können.
Polizei? Hinterfragen Sie beim Werbeattribut "Polizei", ob wirklich eine aktuelle Zusammenarbeit mit der Polizei besteht.
Vernetzung? Fragen Sie nach der Vernetzung der Anbieter mit anderen, örtlichen Beratungs- und Präventionsstellen.
Keine Erfolgsgarantie! Für die Sicherheit und das Selbstbewusstsein eines Kindes kann ein Anbieter keine Garantie geben. Wer damit wirbt, ist unseriös.
Keine Werbung mit Angst! Anbieter, die viel über steigende Kriminalität und sexuelle Überfälle durch Fremde reden, spielen mit den Ängsten von Eltern und Kindern. Das ist kontraproduktiv und nicht seriös.
Spaßfaktor? Muss unbedingt dabei sein, kein Kind sollte gegen seinen Willen mitmachen müssen.
Preise? Sehr unterschiedlich je nach Anbieter. Manchmal bezuschusst ein Förderkreis der Schulen oder die Gemeinde die Kurse.
Anbieter? Präventionsstellen der Polizei, Landeskriminalämter, Familienzentren, Schulen, Sportvereine, Jugendberatungsstellen.
Verteidigen oder behaupten?
In einem Selbstverteidigungskurs lernt man, einen Angreifer beispielsweise bei einem Überfall körperlich mit bestimmten Techniken abzuwehren. Kinder, insbesondere in der Grundschulzeit, sind dazu in der Regel nicht in der Lage. Man überfordert ein Kind, wenn man ihm suggeriert, es könne sich gegenüber einem körperlich überlegenen Erwachsenen behaupten. Sinnvoll sind solche Kurse nach der Pubertät.
In Selbstbehauptungskursen oder Selbstsicherheitstrainings wird die Fähigkeit des Kindes bestärkt, sich abzugrenzen und durchzusetzen. Strategien werden geübt, die es Kindern ermöglichen sollen, sich aus einer Konfliktsituation herauszuziehen und Hilfe zu holen. Die Trainer informieren altersgemäß über Gewalt im Allgemeinen und sexuelle Gewalt. In den Kursen werden weniger körperliche Techniken als eine Haltung trainiert, die das Selbstwertgefühl eines Kindes stärken sollen.
Mehr Information
Die Qualitätsstandards und Position des Kinderschutzbundes kann man sich unter
www.kinderschutzbund-nrw.de/SelbstsicherheitstrainingsPositionspapier.pdf anschauen.
Unter http://www.ajs-bw.de/kinder-schutz-01.html#a1015 steht unten auf der Seite ein kompaktes Faltblatt des LKAs Baden-Württemberg zur Verfügung.
Bücher zum Thema
Susa Apenrade, Jutta Knipping, Ich kenn dich nicht, ich geh nicht mit! Arena-Taschenbücher. Farbig illustriert. Juni 2009. 88 Seiten, 6,50 Euro. Zum Vorlesen ab drei Jahren.
Virginie Dumont, Ich habe Angst vor diesem Mann.
Kindermann Verlag, Oktober 2000, Berlin. 47 Seiten, 10 Euro. Vom Deutschen Kinderschutzbund empfohlen, ab sieben Jahren.
Gisela Braun/Dorothee Wolters, Das große und das kleine Nein. Farbig illustriert mit vier Seiten Hinweise für Erwachsene. Verlag an der Ruhr, Januar 1997, 17 Seiten 10,50 Euro. Ab vier Jahren.
Marie Wabbes, Ich dachte, du bist mein Freund. Brunnen-Verlag Gießen, Januar 2008, 32 Seiten, 8,95 Euro. Zum Vorlesen ab sechs Jahren.