Idealer Lernplatz: Kinderschreibtische sollten auf Bewegung ausgerichtet sein

Interview mit Dr. Dieter Breithecker

Magazin Juli 2024: Naturjoghurt | Autor: Eva Bodenmüller | Kategorie: Kinder und Familie | 21.07.2024

Spätestens mit dem Schulstart sollten Kinder einen Kinderschreibtisch nutzen, an dem sie gut sitzen können.
Foto: fizkes/Shutterstock

Spätestens mit der Einschulung stellen sich Eltern die Frage: Was für ein Schreibtisch ist gut für mein Kind? Bei der Wahl sollten die Entwicklung des Kindes und sein Bewegungsdrang als Kriterien ganz weit vorn stehen, empfiehlt der Sport- und Bewegungswissenschaftler Dr. Dieter Breithecker.

  • Laut aktuellen Studie sitzen Kinder bereits im Grundschulalter bis zu neun Stunden am Tag.
  • Das widerspricht ihrem natürlichen Bewegungsdrang und kann langfristig zu gesundheitlichen Problemen führen, warnt der Sport- und Bewegungswissenschaftler Dr. Dieter Breithecker.
  • Darum ist es wichtig, dass der Kinderschreibtisch und dazu passende Stuhl möglichst gut an die ergonomischen Bedürfnisse angepasst sind.

Dr. Dieter Breithecker ist Sport- und Bewegungswissenschaftler. Der ehemalige Leiter und Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung ist Vorstandsmitglied im Forum Gesunder Rücken – besser leben sowie Berater der Aktion Gesunder Rücken.

ÖKO-TEST: Herr Breithecker, Sie beschäftigen sich viel mit der Entwicklung von Kindern und der geeigneten Lernumgebung. Wie sieht denn der ideale Lernplatz für Kinder aus?

Dieter Breithecker: Vielseitig. Kinder haben eine hohe intrinsische Vitalität, kauern am Boden, stehen, liegen oder knien auf dem Stuhl. Das ist eine intelligente Anlage, vielfältige Positionen zu variieren. Denn die ersten zehn bis elf Lebensjahre sind von intensiven Entwicklungsprozessen geprägt.

Ein Kind kann nicht eine Minute stillsitzen. Und trotzdem sitzen Kinder nach aktuellen Studien bereits im Grundschulalter bis zu neun Stunden am Tag. Das bringt auch die Nutzung digitaler Medien mit sich. Gesundheitlich gefährdend ist das, weil daraus Folgekrankheiten entstehen, die sich oft erst im Erwachsenenalter zeigen. Insofern sind Rückenschmerzen meist erst einmal ein gutes Warnsignal, das uns zeigt, dass unser Verhalten geändert werden muss.

Dr. Dieter Breithecker ist Sport- und Bewegungswissenschaftler.
Dr. Dieter Breithecker ist Sport- und Bewegungswissenschaftler. (Foto: Dr. Dieter Breithecker)

Kinderschreibtisch: Kinder sitzen zu lange

Warum ist Sitzen schlecht?

Breithecker: Wenn ein Kind lange sitzt, bedeutet das Stress für Körper, Geist und Seele. Das ist besonders schlimm, weil im Kindesalter das Gehirn seine wichtigste Entwicklungsphase durchläuft. Intuitiv will und muss ein Kind sich bewegen, gerade in den ersten elf Lebensjahren. Das hat mit unserer Entwicklungsgeschichte zu tun. Kinder haben eine angeborene physiologische Intelligenz oder, anders ausgedrückt, durch die Evolution angeborene Algorithmen. Die wirken dann ausgleichend, wenn die innere Balance bedroht ist.

In der Evolution waren Entwicklung und Lernen immer mit Bewegung verbunden. Erst später erfolgte das Lernen in Räumen in Form von lehrerzentriertem Unterricht im Sitzen. Eine moderne Unterrichtspädagogik favorisiert dagegen einen schülerzentrierten Unterricht mit mehr Projektarbeit. Das Kind wechselt dabei häufiger die Körperpositionen.

Auch zu Hause findet Lernen am besten in einer Wohlfühlatmosphäre statt, an einem geeigneten Ort mit der individuellen Körperhaltung für das beste Lernen. Dazu gehört immer auch Bewegung.

Darum ist ein höhenverstellbarer Kinderschreibtisch ideal

Wenn sich Kinder ohnehin viel bewegen und weniger sitzen sollen, brauchen sie dann überhaupt einen Schreibtisch? Genügt dann nicht jeder Tisch, um mal dran zu schreiben oder zu malen?

Breithecker: Ein guter ergonomischer Lernarbeitsplatz sollte immer die Basis sein. Bestimmte Tätigkeiten brauchen Ankerplätze. Und das ist der ergonomische Schreibtisch mit seinem ergonomischen Stuhl. Das heißt nicht, dass das Kind nur dort lernen soll. Aber es ist der zentrale Ort dafür. Ein Esszimmertisch ist nun mal ein Ort zum Essen.

Wie sollte dann der Arbeits­ oder Lernplatz für Kinder aussehen?

Breithecker: Der stufenlos höhenverstellbare Stuhl hat idealerweise eine bewegliche Sitzfläche und passt sich so den intuitiven Bewegungen des Kindes während des Sitzens an. Der Schreibtisch sollte ebenfalls möglichst stufenlos mitwachsen und unbedingt eine verstellbare Tischplattenneigung von mindestens 16 Grad haben. Das heißt aber nicht, dass die ganze Tischplatte unbedingt geneigt sein muss.

Flache Tischplatte begünstigt "Nickhaltung"

Warum braucht es diese Neigung und die bewegliche Sitzfläche?

Breithecker: Dahinter stecken komplexe Details. In dieser Entwicklungsphase des Kindes durchlaufen Sensorik, Gehirn und Organe eine kritische Phase. Beispielsweise sind das periphere Sehen und das Distanzsehen bei Kindern eingeschränkter als bei Erwachsenen.

Kinder brauchen zum Beispiel einen Abstand zwischen Auge und Arbeitsfläche von rund 30 Zentimetern, bei Erwachsenen sind es etwa 50 Zentimeter. Bei einer flachen Tischplatte entsteht eine "Nickhaltung" – das Kind beugt sich zur Arbeitsfläche nach vorn.

Eine Neigung der Tischplatte von 16 Grad wirkt dieser schlechten Haltung entgegen. Was den Stuhl angeht, zeigt ein Kind, was ideal ist. Es kippelt mit einem starren Stuhl nach vorn zur Arbeitsfläche, nach hinten zum Zuhören. Das geschieht intuitiv. Eine bewegliche Sitzfläche unterstützt diesen rückengerechten Haltungswechsel und wirkt der sogenannten C-­Haltung entgegen.

Wie finden Eltern einen passenden, guten Schreibtisch?

Breithecker: Beispielsweise gibt es das Zertifikat der Aktion Gesunder Rücken (AGR) für rückenfreundliche Verhältnisse. Von einem interdisziplinären und unabhängigen Prüfgremium ausgezeichnete Produkte erfüllen die Qualitätskriterien, die für die Rückengesundheit elementar sind. Die von der AGR zertifizierten Hersteller sind auf die Anforderungen nach ergonomischen Kindermöbeln eingegangen.

Schreibtisch und Stuhl sollten aufeinander abgestimmt sein

Was ist eine gute Sitzhaltung?

Breithecker: Die gute Haltung gibt es nicht. Meist ist damit eine aufrechte Haltung mit einer harmonischen Doppel­-S-­Schwingung der Wirbelsäule gemeint. Aber diese eine eingenommene Haltung würde auf Dauer zu Verspannungen und damit zu Rückenschmerzen führen.

Die Wirbelsäule ist zwar ein Haltungsorgan, vor allem aber ein Bewegungsorgan. Drehen, beugen, strecken – die Wirbelsäule lebt von der Dynamik, von Wechselhaltungen. Ein Merksatz dazu: "Die beste Haltung ist immer die nächste Haltung!

Was ist wichtiger – ein guter Stuhl oder ein guter Tisch?

Breithecker: Grundsätzlich ist eine aufeinander abgestimmte Kombination von Stuhl und Tisch zu empfehlen. Wenn beispielsweise das Budget begrenzt ist, empfehle ich zuerst den höhenverstellbaren Stuhl mit beweglicher Sitzfläche. Dieser trägt erst einmal dem Bedarf des Kindes Rechnung, dass es dynamisch sitzen muss. Aber bitte bedenken Sie: Auch mit dem besten Stuhl leidet das Kind, wenn es immer nur sitzt.

Die Tischhöhe sollte annähernd zur eingestellten Stuhlhöhe passen. Ist der Tisch zu niedrig, kann man die Höhe anpassen, indem man Klötze unter die Tischbeine legt. Eine Buchstütze oder ein neigungsverstellbarer Pultaufsatz ermöglichen auf einer flachen Tischplatte die geforderte Neigung von mindestens 16 Grad.

Wechselhaltungen sind für die Gesundheit wichtig

Spricht etwas gegen gebrauchte Möbel?

Breithecker: Überhaupt nicht. Sie sollten aber den Kriterien für einen guten Schreibtisch und Stuhl entsprechen.

Was ist mit Stehtischen für Kinder?

Breithecker: Die sind sehr sinnvoll, weil sie den Haltungswechsel vom Sitzen zum Stehen fördern. Die optimale Lösung sind Schreibtische, die sich bis zur Stehhöhe verstellen lassen. Das ist aber auch die teure Lösung.

Gibt es da auch eine günstigere Variante oder einen Trick?

Breithecker: Eventuell ein der Höhe entsprechendes Sideboard nutzen. Ist dies zu hoch, kann man die fehlende Körperhöhe mit einem Kissen, Holzschemel oder Ähnlichem ausgleichen. Auch ein Bügelbrett eignet sich als temporärer Stehtisch – zumindest zwischendurch.

Wichtig ist, dass die Menschen verstehen, dass Wechselhaltungen für ihre Gesundheit und die ihrer Kinder wichtig sind. Dann finden sie auch Hilfsmittel.

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Tipps: So finden Sie die richtige Schreibtischhöhe

Für eine gute Sitzposition können Sie auf die folgenden Dinge achten: 

  • Beide Füße sollten fest auf dem Boden stehen.
  • Ober­ und Unterschenkel sollten im Sitzen einen Winkel von 90 Grad bilden.
  • Die Unterarme liegen auf der Tischplatte auf.
  • Dabei bilden die Unterarme und Oberarme ebenfalls einen Winkel von 90 Grad.

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