Es war zum Verzweifeln: Zum Ende der ersten Klasse machte David noch immer keine Fortschritte im Lesen und Schreiben. "Er konnte Buchstaben zwar erkennen, sie aber nicht zu Worten zusammensetzen", berichtet seine Mutter Kerstin Drollinger, die beruflich selbst mit Worten zu tun hat, als Übersetzerin arbeitet. Davids vergebliche Bemühungen erinnerten sie an eine Kindheitsfreundin, die Legasthenie hatte. Die Lehrer aber beruhigten die Eltern zunächst: Vielleicht überfordere ihn die Zweisprachigkeit an der bilingualen Grundschule. "Ich musste viel Überzeugungsarbeit leisten, bis David getestet wurde", sagt Kerstin Drollinger. Später wurde bei dem Jungen eine schwere Ausprägung der Legasthenie diagnostiziert.
Studien gehen davon aus, dass vier bis fünf Prozent der Bevölkerung von einer Lese- und/oder Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) betroffen sind. Beide Formen treten auch isoliert voneinander auf. Bei den Kindern können Fachleute die Störung nicht durch eine verzögerte Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten oder durch mangelnde Intelligenz erklären. Es gibt allerdings Unterschiede zwischen einer Lese-Rechtschreib-Störung und einer vorübergehenden Lese-Rechtschreib-Schwäche: Bei Letzterer kann es beispielsweise sein, dass ein Kind schlecht hört oder sieht und deswegen Probleme beim Lesen oder Schreiben hat. Die Legasthenie geht oft mit weiteren Auffälligkeiten einher, 30 bis 40 Prozent der Betroffenen leiden an Belastungen wie Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten oder Depressionen.
Lehrer und Eltern erkennen die Legasthenie häufig erst Anfang der zweiten Klasse, erklärt Annette Höinghaus, Sprecherin des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie (BVL). "Denn vorher schummeln sich viele Kinder noch durch, lernen beispielsweise die kleinen Texte auswendig."
Erste frühe Hinweise gebe es allerdings möglicherweise schon vorher: Wenn Kinder es auffallend meiden, ihre Namen unter kleine Kunstwerke zu schreiben, wenn sie Schwierigkeiten haben, einen Rhythmus zu klatschen, oder bei Reimen gleichlautende Worte nicht erkennen. In der Schule fällt die Störung spätestens dann auf, wenn die Kinder Texte vorlesen, die sie noch nicht kennen: "Es gelingt ihnen ganz schlecht, aus Buchstaben Silben zu bilden, aus Silben Worte, aus Worten Sätze", erklärt Höinghaus. Viele können ähnlich klingende Laute oder Buchstaben wie "b" und "p" nicht auseinanderhalten. Es gelingt ihnen nicht, Wortbilder abzuspeichern, und sie schreiben ein Wort im selben Text auf verschiedene Weisen. Kinder mit LRS brauchen viel Zeit, müssen manche Regeln immer wieder neu lernen.
Die Legasthenie hängt mit neurobiologischen Veränderungen im Gehirn zusammen. Experten gehen davon aus, dass Betroffene visuelle und auditive Informationen, die den Bereich Buchstaben und Sprache betreffen, schwerer wahrnehmen und verarbeiten können. Das erklärt beispielsweise, warum die Kinder Probleme haben, Worte schnell zu erkennen oder Buchstaben in die ri...